Otto Schmidt Verlag

EGMR 12.4.2012, Beschwerde-Nr. 43547/08

Inzestverbot für Geschwister in Deutschland verstößt nicht gegen Europäische Menschenrechtskonvention

Das Inzestverbot für Geschwister im deutschen Strafrecht verletzt nicht das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens nach Art. 8 EMRK. Das hat der EGMR entschieden und die Beschwerde eines Mannes aus Leipzig zurückgewiesen, der zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden war, weil er mit seiner leiblichen Schwester vier Kinder gezeugt hatte.

Der Sachverhalt:
Der 1976 geborene Beschwerdeführer ist deutscher Staatsangehöriger und lebt in Leipzig. Als Siebenjähriger wurde er von einer Pflegefamilie adoptiert, nachdem er als Dreijähriger zunächst in einem Kinderheim untergebracht worden war. Nach seiner Adoption hatte er jahrelang keinen Kontakt zu seiner leiblichen Familie. Erst als er im Jahr 2000 wieder Kontakt aufnahm, erfuhr der Beschwerdeführer, dass er eine, 1984 geborene, leibliche Schwester hat. Nach dem Tod ihrer Mutter im Dezember 2000 entwickelte sich eine Liebesbeziehung zwischen den Geschwistern. Sie lebten mehrere Jahre zusammen und bekamen zwischen 2001 und 2005 vier gemeinsame Kinder.

Nach mehreren Vorstrafen wegen seiner Inzestbeziehung verurteilte das AG Leipzig den Beschwerdeführer im November 2005 wegen Beischlafs zwischen Verwandten in zwei Fällen zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten. Unter Berufung auf ein Sachverständigengutachten, demzufolge seine Schwester eine ängstlich zurückgezogene Persönlichkeitsstruktur habe und in hohem Maße von ihm abhängig sei, schlussfolgerte das Gericht, sie sei nur teilweise schuldfähig und sah in ihrem Fall von einer Strafe ab. Das OLG Dresden bestätigte das Urteil.

Das BVerfG wies die gegen die Verurteilung eingelegte Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zurück. Die Strafbarkeit des Beischlafs zwischen leiblichen Geschwistern nach dem StGB stelle keinen Eingriff in den Kernbereich privater Lebensgestaltung dar. Wichtigster Grund für die Strafbarkeit sei der Schutz von Ehe und Familie, da Inzestverbindungen zu einer Überschneidung von Verwandtschaftsverhältnissen und sozialen Rollenverteilungen führten. Darüber hinaus seien der Schutz der sexuellen Selbstbestimmung und die Gefahr erheblicher Schädigungen der aus einer solchen Beziehung hervorgegangenen Kinder Gründe für das Verbot.

Die Beschwerde des Beschwerdeführers hatte vor dem EGMR keinen Erfolg.

Die Gründe:
Es liegt keine Verletzung von Art. 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) vor.

Es ist nicht auszuschließen, dass die Verurteilung des Beschwerdeführers eine Beeinträchtigung seines Familienlebens darstellt. Unstreitig ist jedenfalls, dass die Verurteilung einen Eingriff in sein Recht auf Achtung des Privatlebens nach Art. 8 bedeutet, das auch sein Sexualleben mit einschließt. Seine Verurteilung war jedoch nach dem deutschen StGB, das sexuelle Beziehungen zwischen leiblichen Geschwistern unter Strafe stellt und auf den Schutz der Moral und der Rechte anderer abzielt, gesetzlich vorgeschrieben. Daher verfolgte die Verurteilung einen legitimen Zweck i.S.v. Art. 8 EMRK.

Die deutschen Behörden haben bei der Entscheidung, wie mit Inzestbeziehungen zwischen erwachsenen Geschwistern umzugehen sei, einen weiten Beurteilungsspielraum. Zwischen den Mitgliedstaaten des Europarats besteht zwar kein Konsens hinsichtlich der Frage, ob einvernehmliche sexuelle Beziehungen zwischen erwachsenen Geschwistern eine Straftat darstellen. In einer Mehrheit der Staaten sind solche Beziehungen allerdings strafbar. Darüber hinaus verbieten alle vom EGMR berücksichtigten Rechtssysteme die Ehe zwischen Geschwistern. Zu berücksichtigen war auch, dass der Fall eine Frage moralischer Maßstäbe betraf, in der Staaten nach seiner Rechtsprechung einen weiten Beurteilungsspielraum haben, wenn zwischen den Staaten kein Konsens besteht.

Im Übrigen hat das BVerfG eine sorgfältige Abwägung der Argumente für und gegen die Strafbarkeit sexueller Beziehungen zwischen Geschwistern vorgenommen. Es ist zu der Auffassung gelangt, dass mehrere Strafzwecke zusammengenommen die Verurteilung des Beschwerdeführers rechtfertigten, darunter der Schutz der Familie, die sexuelle Selbstbestimmung und die öffentliche Gesundheit, vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Überzeugung, dass Inzest strafwürdig sei. Es hatte berücksichtigt, dass sexuelle Beziehungen zwischen Geschwistern Familienstrukturen, und folglich die Gesellschaft insgesamt, ernsthaft beeinträchtigen könnten.

Die sorgfältige Prüfung des BVerfG zeigt sich auch darin, dass der Entscheidung eine ausführliche abweichende Meinung eines Richters beigefügt war. Insgesamt war festzustellen, dass die von den deutschen Gerichten verfolgten Zwecke nicht unangemessen waren und die deutschen Gerichte ihren Beurteilungsspielraum bei der Verurteilung nicht überschritten haben.

Linkhinweis:

Auf den Webseiten des EGMR finden Sie die Pressemitteilung hier.

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 12.04.2012 16:41
Quelle: EGMR PM Nr. 158 vom 12.4.2012

zurück zur vorherigen Seite