Otto Schmidt Verlag

BFH 15.3.2012, III R 29/09

Zum Anspruch auf Kindergeld für ein im Niedriglohnsektor beschäftigtes Kind

Ein Anspruch auf Kindergeld nach § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 3 EStG ist nicht allein deshalb zu verneinen, weil das behinderte Kind einer Erwerbstätigkeit nachgeht. Ist das behinderte Kind trotz seiner Erwerbstätigkeit nicht in der Lage, seinen gesamten Lebensbedarf zu bestreiten, hat das FG unter Würdigung der Umstände des einzelnen Falles zu entscheiden, ob die Behinderung für die mangelnde Fähigkeit zum Selbstunterhalt in erheblichem Maße (mit-)ursächlich ist.

Der Sachverhalt:
Die im September 1980 geborene Tochter (T) der Klägerin ist seit ihrer Geburt gehörlos. Sie besuchte zunächst eine Gehörlosenschule und erlernte anschließend in einem Bildungswerk für Hör- und Sprachgeschädigte den Beruf der Beiköchin. Beiköche arbeiten nach Anleitung und unter Aufsicht erfahrener Köche. Sie werden üblicherweise in Großküchen von Krankenhäusern, Altenheimen und ähnlichen Einrichtungen tätig.
 
T war nach Abschluss seiner Ausbildung zunächst als Köchin tätig. Nach einer Phase der Arbeitslosigkeit fand sie dann eine Anstellung als Küchenhilfe in einer Fleischerei. Trotz der jeweiligen Erwerbstätigkeit war sie nicht in der Lage, mit den hieraus erzielten Einkünften seinen gesamten Lebensbedarf zu decken. Die Klägerin beantragte im April 2003 Kindergeld für T. Nach Einholung einer Stellungnahme der Reha/SB-Stelle des Arbeitsamtes, nach der T in der Lage war, eine arbeitslosenversicherungspflichtige, mindestens 15 Stunden umfassende Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des in Betracht kommenden Arbeitsmarktes auszuüben, lehnte die Familienkasse den Antrag ab.

Das FG wies die hiergegen gerichtete Klage ab. Da T einer Erwerbstätigkeit nachgehe, sei sie in der Lage, selbst für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Dass der Verdienst des Kindes nicht ausreiche, um den gesamten Lebensbedarf zu decken, liege nicht an der Behinderung, sondern an den geringen Löhnen, die im Beruf der Beiköchin gezahlt würden. Auf die Revision der Klägerin hob der BFH das Urteil auf und verwies die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurück.

Die Gründe:
Mit der gegebenen Begründung durfte das FG den Antrag auf Kindergeld nicht ablehnen. Es wird im zweiten Rechtsgang erneut zu würdigen haben, ob T im Streitzeitraum wegen ihrer Behinderung nicht zum Selbstunterhalt in der Lage war.

Entscheidend ist die Frage, warum ein Kind, das arbeitet, von seiner Hände Arbeit dennoch nicht leben kann. Das kann auf unterschiedlichsten Gründen beruhen. So kann das allgemeine Lohnniveau so niedrig liegen, dass auch ein nicht behinderter Mensch nicht in der Lage wäre, mit einer Vollzeittätigkeit seinen Lebensunterhalt zu decken (z.B. prekäres Arbeitsverhältnis). In diesem Fall könnte das Kind steuerlich nicht berücksichtigt werden, weil nicht die Behinderung, sondern die schlechte Arbeitsmarktsituation ursächlich dafür ist, dass das Geld zum Leben nicht reicht.

Es kann aber auch so sein, dass das Kind von vornherein in Folge seiner Behinderung in der Berufswahl dermaßen eingeschränkt ist, dass ihm nur eine behinderungsspezifische Ausbildung mit späteren ungünstigen Beschäftigungsmöglichkeiten offensteht. Wenn man wegen seiner Behinderung überhaupt nur im Niedriglohnsektor eine bezahlte Arbeit findet, dann ist die Behinderung die eigentliche Ursache für die Unfähigkeit, sich selbst zu unterhalten. Nichts anderes gilt wenn das Kind wegen seiner Behinderung in seiner Leistungsfähigkeit derart eingeschränkt ist, dass es von vornherein nur einer Teilzeitbeschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nachgehen kann.

Welche Ursache letztendlich für die Unfähigkeit von T, sich selbst zu unterhalten, verantwortlich ist, wird das FG als Tatsachengericht festzustellen haben. Die Rechtssache war daher an das FG zurückzuverweisen.

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Verlag Dr. Otto Schmidt vom 06.06.2012 12:38
Quelle: BFH PM Nr. 40 vom 6.6.2012

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