Otto Schmidt Verlag

BFH 19.4.2012, III R 87/09

Zum Kindergeldanspruch eines in Deutschland freiwillig rentenversicherten Selbständigen für seine in Österreich bei der Mutter lebenden Kinder

Anhang I Teil I Buchst. D (bzw. Buchst. E in der ab 2007 geltenden Fassung) Ziff. b der VO Nr. 1408/71 sieht eine Anwendung der für Familienleistungen geltenden Vorschriften der Art. 72 ff. der VO Nr. 1408/71 für den Fall, dass ein deutscher Träger der zuständige Träger für die Gewährung der Familienleistungen ist, bei in der gesetzlichen Rentenversicherung versicherten Selbständigen nur dann vor, wenn eine Versicherungspflicht besteht, nicht dagegen bei einer nur freiwilligen Versicherung.

Der Sachverhalt:
Der Kläger besitzt die deutsche Staatsangehörigkeit. Er ist der Vater einer im Januar 1994 geborenen Tochter und eines im Juni 1997 geborenen Sohnes. Der Kläger war in Deutschland als Handelsvertreter selbständig tätig und erhält seit dem 1.2.2007 eine Regelaltersrente. In die Rentenversicherung für Angestellte zahlte er bis 1969 Pflichtbeiträge ein. Von 1970 an (Beginn der Handelsvertretertätigkeit) bis Ende 2005 zahlte er freiwillig Rentenversicherungsbeiträge. Die Ehefrau des Klägers und Mutter der beiden Kinder ist österreichische Staatsangehörige und lebt mit den beiden Kindern seit Oktober 2000 in Österreich. Seit Anfang des Jahres 2006 ist die Ehefrau in Österreich nichtselbständig tätig.

Der Kläger erhielt während des sich bis einschließlich Januar 2006 erstreckenden Streitzeitraums das Kindergeld für seine beiden Kinder in gesetzlicher Höhe. Im Juli 2007 teilte er der beklagten Familienkasse mit, dass seine Ehefrau und seine Kinder nach Österreich gezogen seien und dass seine Ehefrau dort seit Januar 2007 berufstätig sei. Später legte er den Vordruck E 411 vor, in dem das zuständige österreichische Finanzamt bescheinigte, dass die Ehefrau des Klägers ab dem 2.1.2006 laufend eine berufliche Tätigkeit ausgeübt habe und ihr für den gleichen Zeitraum ein Anspruch auf Familienleistungen für Familienangehörige zustehe.

Im Juli 2008 änderte die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung in der Weise, dass sie die Beträge je Kind auf 69 € (November 2000 bis Dezember 2001) bzw. 77 € (Januar 2002 bis Januar 2006) reduzierte. Mangels Anwendbarkeit der speziellen gemeinschaftsrechtlichen Konkurrenzvorschriften für Familienleistungen sei auf die allgemeine Konkurrenzvorschrift des Art. 12 Abs. 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, zurückzugreifen. Danach könne in Deutschland (nur) das hälftige Kindergeld gezahlt werden.

Das FG hob den angegriffenen Bescheid hinsichtlich des Zeitraumes von November 2000 bis Dezember 2003 auf und wies die Klage im Übrigen ab. Auf die Revision des Klägers hob der BFH das Urteil hinsichtlich des Kindergelds für den Zeitraum Januar 2004 bis Januar 2006 auf und verwies die Sache insoweit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurück.

Die Gründe:
Das FG hat rechtsfehlerhaft angenommen, dass ein etwaiger Anspruch des Klägers auf das volle Kindergeld nach den §§ 62 f. EStG (in der für den Streitzeitraum geltenden Fassung) für seine Kinder jedenfalls nach § 65 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 EStG ausgeschlossen sei. Die bisherigen Feststellungen des FG ermöglichen allerdings keine abschließende Entscheidung dazu, ob § 65 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 EStG im vorliegenden Fall überhaupt zur Anwendung gelangt.

Zu Unrecht ist das FG davon ausgegangen, dass die Eröffnung des persönlichen Geltungsbereichs der VO Nr. 1408/71 durch den Anhang I Teil I Buchst. D der VO Nr. 1408/71 (entspricht Buchst. E in der ab 2007 geltenden Fassung) ausgeschlossen wird. Sollten die noch erforderlichen Ermittlungen des FG ergeben, dass der Kläger vom persönlichen Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71 erfasst wird, ist das auf ihn anzuwendende Recht nach den Vorschriften des Titels II dieser Verordnung (Art. 13 ff.) zu bestimmen. Soweit sich aufgrund des Art. 13 Abs. 2 der VO Nr. 1408/71 ergibt, dass auf den Kläger deutsche Rechtsvorschriften anzuwenden sind, müsste noch geprüft werden, wie die sich dann ergebende Anspruchskumulierung vermieden wird.

Anhang I Teil I Buchst. D der VO Nr. 1408/71 sieht bei der Anwendung der für Familienleistungen geltenden Vorschriften des Titels III Kapitel 7 der VO Nr. 1408/71 eine Einschränkung des persönlichen Geltungsbereichs der VO Nr. 1408/71 vor. Danach gilt für den Fall, dass ein deutscher Träger der zuständige Träger für die Gewährung der Familienleistungen gem. Titel III Kapitel 7 der VO Nr. 1408/71 ist, i.S.d. Art. 1 Buchst. a Ziff. ii der VO Nr. 1408/71 als Selbständiger, wer eine Tätigkeit als Selbständiger ausübt und in einer Versicherung der selbständig Erwerbstätigen für den Fall des Alters versicherungs- oder beitragspflichtig ist oder in der gesetzlichen Rentenversicherung versicherungspflichtig ist.

Der Kläger war jedoch weder in einer Versicherung der selbständig Erwerbstätigen für den Fall des Alters versicherungs- oder beitragspflichtig noch in der gesetzlichen Rentenversicherung versicherungspflichtig. Der Fall der freiwilligen Versicherung in der gesetzlichen Rentenversicherung wird von dieser Vorschrift nicht erfasst, da insoweit gerade keine Versicherungspflicht besteht. Die Einschränkung des persönlichen Anwendungsbereichs bei der Anwendung der für Familienleistungen geltenden Vorschriften würde jedoch dazu führen, dass trotz einer grenzüberschreitenden Kumulation zweier Ansprüche die gemeinschaftsrechtliche Antikumulierungsvorschrift nicht zur Anwendung gelangen würde.

Zur Reichweite der Bestimmungen des Anhangs I der VO Nr. 1408/71 hat der EuGH entschieden (14.10.2010, C-16/09), dass auch in einem Fall, in dem die nach deutschem Recht Kindergeldberechtigte die Voraussetzungen des Anhangs I Teil I Buchst. D der VO Nr. 1408/71 nicht erfüllt, die Antikumulierungsvorschrift des Art. 10 der VO Nr. 574/72 zur Anwendung kommen kann. Dies begründete er zum einen damit, dass es trotz der fehlenden Anwendbarkeitsvoraussetzungen zur Entstehung paralleler Ansprüche auf Familienleistungen für denselben Zeitraum kommen könne. Zum anderen verwies er darauf, dass die Kinder als Familienangehörige des Elternteils, der Arbeitnehmer ist, in den persönlichen Anwendungsbereich der VO Nr. 1408/71 fallen.

Daraus ergibt sich, dass Art. 10 der VO Nr. 574/72 im Streitfall jedenfalls für den Monat Januar 2006 Anwendung finden würde, da die Mutter der Kinder in diesem Monat selbst Arbeitnehmerin war und daher die Kinder als Familienangehörige in den persönlichen Anwendungsbereich der VO Nr. 1408/71 fallen. Auch für die Monate Januar 2004 bis Dezember 2005 könnte sich eine Anwendbarkeit des Art. 10 der VO Nr. 574/72 daraus ergeben, dass die Mutter der Kinder in den persönlichen Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71 fällt.

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Verlag Dr. Otto Schmidt vom 25.07.2012 12:04
Quelle: BFH online

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