Otto Schmidt Verlag

BGH 18.7.2012, XII ZB 661/11

§ 151 Nr. 6 FamFG: Beschwerdegericht muss Betroffenen bei Verletzung zwingender Verfahrensvorschriften im ersten Rechtszug erneut anhören

In einer Kindschaftssache nach § 151 Nr. 6 FamFG darf das Beschwerdegericht nicht gem. § 68 Abs. 3 S. 2 FamFG von einer erneuten Anhörung des Betroffenen absehen, wenn das Gericht des ersten Rechtszugs bei der Anhörung des Betroffenen zwingende Verfahrensvorschriften verletzt hat. Die Genehmigung der Unterbringung eines Kindes, die mit Freiheitsentziehung verbunden ist (§ 1631 b BGB), ist unzulässig, solange insbesondere eine Heimerziehung in einer offenen Einrichtung nicht aussichtslos erscheint.

Der Sachverhalt:
Der 1995 geborene minderjährige Betroffene wendet sich gegen die Genehmigung seiner Unterbringung in einer geschlossenen Abteilung einer sozialtherapeutischen Jugendhilfeeinrichtung. Seine alleinsorgeberechtigte Mutter nahm seit April 2011 Leistungen der Familienhilfe in Anspruch, weil sie mit der Erziehung ihres Sohnes überfordert war. Der Betroffene ging nicht mehr zur Schule, konsumierte Alkohol und Cannabis und war zusammen mit anderen Jugendlichen straffällig geworden. Im Rahmen einer Therapie in einer Drogenambulanz wurde eine stationäre Behandlung für erforderlich gehalten, zu der der Betroffene nicht bereit war. Daraufhin beantragte die Mutter, die geschlossene Unterbringung ihres Sohnes zu genehmigen.

Das AG bestellte für den Betroffenen einen Verfahrensbeistand und genehmigte nach Anhörung des Betroffenen, des Verfahrensbeistands und der Mutter die Unterbringung in einer geschlossenen Abteilung eines psychiatrischen Krankenhauses zunächst bis zum 13.10.2011 zur Begutachtung. Zugleich ordnete es die Einholung eines Sachverständigengutachtens zu der Frage an, unter welcher psychischen Störung der Betroffene leide und welche therapeutischen Maßnahmen erforderlich seien, um eine Gefährdung des Kindeswohls abzuwenden.

Nach Eingang des Sachverständigengutachtens hörte das AG den Betroffenen in Anwesenheit seiner Mutter zu dem Ergebnis des Gutachtens an, genehmigte sodann die Unterbringung in einer geschlossenen Abteilung einer sozialtherapeutischen Jugendhilfeeinrichtung längstens bis zum 4.10.2012 und ordnete die sofortige Wirksamkeit des Beschlusses an. Die Beschwerde des Betroffenen blieb vor dem OLG erfolglos. Auf die hiergegen gerichtete Rechtsbeschwerde, mit der er die Aufhebung der erstinstanzlichen Entscheidung erstrebt, hob der BGH den Beschluss des OLG auf, verwies das Verfahren zur erneuten Behandlung und Entscheidung dorthin zurück, und ordnete die Aufhebung der Anordnung der sofortigen Wirksamkeit des Beschlusses des AG an.

Die Gründe:
Die Rechtsbeschwerde rügt zu Recht, dass die angefochtene Entscheidung auf Verfahrensfehlern beruht. Das OLG hat von einer persönlichen Anhörung des Betroffenen abgesehen, weil nach zwei Anhörungen durch das AG hierdurch keine neuen Erkenntnisse zu erwarten gewesen seien. Der Betroffene habe bei der letzten Anhörung lediglich geäußert, dass er nicht bereit sei, sich freiwillig in eine geschlossene Einrichtung zu begeben. Außerdem sei davon auszugehen, dass der Verfahrensbeistand in der Beschwerdebegründung vollständig und zutreffend mitgeteilt habe, weshalb der Betroffene nicht in der geschlossenen Einrichtung bleiben wolle. Diese Begründung rechtfertigt das Unterlassen einer persönlichen Anhörung im Beschwerdeverfahren nicht.

Gem. § 68 Abs. 3 S. 2 FamFG kann das OLG zwar von der Durchführung eines Termins, einer mündlichen Verhandlung oder einzelner Verfahrenshandlungen absehen, wenn diese bereits im ersten Rechtszug vorgenommen wurden und von einer erneuten Vornahme keine zusätzlichen Erkenntnisse zu erwarten sind. Dies gilt jedoch nicht für Verfahrenshandlungen, bei denen das Gericht des ersten Rechtszugs zwingende Verfahrensvorschriften verletzt hat. In diesem Fall muss das Beschwerdegericht den betreffenden Teil des Verfahrens nachholen. Solche Verletzungen von Verfahrensvorschriften liegen hier vor. So hat das AG den Betroffenen u.a. nach Einholung des Sachverständigengutachtens und vor der Entscheidung über die Genehmigung der längerfristigen Unterbringung nicht im Beisein des bestellten Verfahrensbeistands angehört.

Die Rechtsbeschwerde beanstandet darüber hinaus zu Recht, dass die Voraussetzungen des § 1631 b S. 2 BGB nicht ausreichend festgestellt worden sind. § 1631 b BGB ist im Jahr 2008 durch Einfügung des Satzes 2 konkretisiert worden. Die Neufassung stellt klar, dass die geschlossene Unterbringung aus Gründen des Kindeswohls erforderlich und verhältnismäßig sein muss. So ist insbes. der Vorrang anderer öffentlicher Hilfen zu beachten. Eine geschlossene Unterbringung kommt daher nur als letztes Mittel und nur für die kürzeste angemessene Zeit in Betracht.

Nach den getroffenen Feststellungen hat die Mutter des Betroffenen seit April 2011 Hilfe zur Erziehung (§ 27 SGB VIII) in Anspruch genommen. Im weiteren Verlauf wurde für den Betroffenen ein Erziehungsbeistand oder Betreuungshelfer (§ 30 SGB VIII) bestellt; Termine mit diesem soll der Betroffene häufig nicht wahrgenommen haben. Von den gegenüber einer geschlossenen Unterbringung vorrangigen anderen Möglichkeiten öffentlicher Hilfe wurde dagegen kein Gebrauch gemacht, sei es von der Erziehung in einer Tagesgruppe (§ 32 SGB VIII), der intensiven sozialpädagogischen Einzelbetreuung (§ 35 SGB VIII) oder der Hilfe zur Erziehung in einer Einrichtung über Tag und Nacht (Heimerziehung) oder einer sonstigen betreuten Wohnform. Dass eine Freiheitsentziehung nicht gerechtfertigt und damit unverhältnismäßig ist, kann daher nach den getroffenen Feststellungen nicht ausgeschlossen werden.

Linkhinweis:

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Verlag Dr. Otto Schmidt vom 31.07.2012 16:51
Quelle: BGH online

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