Otto Schmidt Verlag

BFH 26.7.2012, III R 28/10

Erstattungsanspruch des Sozialleistungsträgers bei nachträglicher Kindergeldfestsetzung

Hat ein Sozialleistungsträger bedarfsabhängige Sozialleistungen für Eltern und minderjährige Kinder erbracht, die in einem Haushalt zusammenleben und eine Bedarfsgemeinschaft bilden, so steht ihm ein Anspruch auf Erstattung des nachträglich festgesetzten Kindergeldes zu. In diesem Falle ist unerheblich, dass es sich bei dem Kindergeld aus sozialrechtlicher Sicht um Einkommen des kindergeldberechtigten Elternteils handelt.

Der Sachverhalt:
Die Klägerin stammt aus Syrien und hält sich mit ihrem Ehemann seit Juni 1990 in Deutschland auf. Die sechs gemeinsamen Kinder lebten im Streitzeitraum - Juni 2000 bis Februar 2005 - mit den Eltern in einem gemeinsamen Haushalt. Die Klägerin und ihr Ehemann bezogen von der Beigeladenen für sich und die Kinder bis Ende 2004 Sozialleistungen in Form von Hilfe zum Lebensunterhalt, Unterkunftskostenzuschüssen und Bekleidungsgeldern (HLU) nach dem BSHG und ab 2005 nach dem SGB II. Auf die Kinder entfiel dabei für den Zeitraum von Juni 2000 bis Februar 2005 ein Gesamtleistungsbetrag i.H.v. insgesamt rd. 74.000 €.

Mit Schreiben vom 11.6.2007 machte die Beigeladene einen Erstattungsanspruch im Hinblick auf das der Klägerin oder ihrem Ehemann für zurückliegende Zeiträume möglicherweise zustehende Kindergeld i.S.d. § 74 Abs. 2 EStG i.V.m. § 104 SGB X geltend. Die beklagte Familienkasse setzte Kindergeld zugunsten der Klägerin für deren sechs Kinder für die Monate Juni 2000 bis September 2005 fest. Darüber hinaus verfügte sie die Erstattung des Kindergeldes für Juni 2000 bis Februar 2005 i.H.v. rd. 56.000 € an die Beigeladene, da diese für den entsprechenden Zeitraum Sozialleistungen ohne die Anrechnung von Kindergeld gewährt habe. Der Anspruch der Klägerin gelte insofern gem. § 74 Abs. 2 EStG i.V.m. den §§ 103, 104, 107 SGB X als erfüllt. Der auf die Monate März bis September 2005 entfallende Kindergeldbetrag i.H.v. rd. 7.000 € wurde dagegen an die Klägerin ausgezahlt.

Das FG gab der Klage zu einem kleineren Teil statt. Der Beigeladenen stehe wegen der Erbringung nachrangiger Sozialleistungen dem Grunde nach ein Anspruch auf Erstattung des für Juni 2000 bis Februar 2005 festgesetzten Kindergeldes zu. Der Erstattungsanspruch sei aber fehlerhaft ermittelt worden und mindere sich dementsprechend geringfügig. Die Revision der Klägerin hatte vor dem BFH keinen Erfolg.

Die Gründe:
Das FG hat zutreffend entschieden, dass der Abrechnungsbescheid (§ 218 Abs. 2 AO) insoweit rechtmäßig war, als der Beigeladenen ein Erstattungsanspruch wegen der von ihr erbrachten Sozialleistungen zusteht und der Anspruch der Klägerin auf Kindergeld daher als erfüllt gilt (§ 107 Abs. 1 SGB X).

Hat ein nachrangig verpflichteter Leistungsträger Sozialleistungen erbracht, ist nach § 104 Abs. 1 SGB X der Leistungsträger erstattungspflichtig, gegen den der Berechtigte vorrangig einen Anspruch hat. Nach § 104 Abs. 2 SGB X gilt § 104 Abs. 1 SGB X auch dann, wenn ein nachrangig verpflichteter Leistungsträger für den Angehörigen eines Berechtigten Sozialleistungen erbracht hat und der Berechtigte mit Rücksicht auf diesen Angehörigen einen Anspruch auf Sozialleistungen gegen einen vorrangig verpflichteten Leistungsträger hat. Ein Erstattungsanspruch nach § 104 Abs. 2 SGB X ist nur dann gegeben, wenn auch die Voraussetzungen des § 104 Abs. 1 SGB X vorliegen. Die Leistungen der unterschiedlichen Leistungsträger müssen deshalb gleichartig sein. Dies setzt voraus, dass sie für dieselben Zeiträume bestimmt sind und sich in der Leistungsart und der Zweckbestimmung entsprechen.

Das Kindergeld ist, soweit es der Familienförderung dient, ebenso wie - bis 2004 - die HLU und - seit 2005 - die Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II dazu bestimmt, die allgemeinen Lebenshaltungskosten zu mindern. Wenn das Kindergeld dem Einkommen des Hilfeempfängers zuzuordnen ist, handelt es sich daher für den jeweiligen Zeitraum um eine mit der HLU sowie dem Arbeitslosengeld II (§ 19 SGB II) und dem Sozialgeld (§ 28 SGB II) gleichartige Leistung. HLU und Grundsicherung sind dem Kindergeld gegenüber auch nachrangig, da sie bedarfsorientiert gewährt werden und der Sozialleistungsträger bei rechtzeitiger Zahlung des Kindergeldes insoweit nicht selbst zur Leistung verpflichtet wäre, da das Kindergeld bei der Ermittlung der HLU nach § 76 BSHG und bei der Grundsicherung nach § 19 S. 2 und § 28 Abs. 2 SGB II als Einkommen anzurechnen ist.

Für den Erstattungsanspruch ist unerheblich, dass die Sozialleistungen für die Kinder erbracht wurden, aber das Kindergeld aus sozialrechtlicher Sicht Einkommen der Klägerin darstellt, weil es weder den Kindern direkt zugeflossen ist noch an diese abgezweigt wurde. Der Senat hat zwar mehrfach entschieden, dass dem Sozialhilfeträger in der Regel kein Anspruch auf Erstattung von nachträglich festgesetztem Kindergeld zusteht, wenn er einem im eigenen Haushalt lebenden Kind HLU geleistet hat, weil das Kindergeld zum Einkommen des anspruchsberechtigten Elternteils gehört. Daraus lässt sich aber nicht folgern, dass ein Erstattungsanspruch auch dann ausgeschlossen ist, wenn der Kindergeldberechtigte mit seinem Ehegatten und seinen minderjährigen Kindern in einem Haushalt lebt, alle Personen bedarfsorientierte Sozialleistungen erhalten und daher eine sozialhilferechtliche Bedarfsgemeinschaft bilden.

Denn für den Anspruch auf Sozialhilfe ist dann allein entscheidend, welchen Bedarf die der Bedarfsgemeinschaft angehörenden Personen haben und welches Einkommen ihnen anrechenbar zur Bedarfsdeckung zur Verfügung steht. Kindergeld ist in diesem Falle sozialhilferechtlich vorrangig zur Bedarfsdeckung einzusetzen, sei es nach § 11 Abs. 1 S. 1 BSHG bzw. § 19 S. 2 SGB II bei dem das Kindergeld beziehenden Elternteil - hier der Klägerin - selbst, oder nach § 11 Abs. 1 S. 2 BSHG bzw. § 28 Abs. 2 i.V.m. § 19 S. 2 SGB II bei den zum Haushalt gehörenden minderjährigen Kindern. Diese leistungsmindernde Anrechnung von Kindergeld auf das Sozialgeld nach § 11 Abs. 1 SGB II ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

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Verlag Dr. Otto Schmidt vom 12.10.2012 10:51
Quelle: BFH online

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