Otto Schmidt Verlag

BVerfG 16.12.2014, 1 BvR 2142/11

Unterlassen einer Richtervorlage aufgrund unvertretbarer verfassungskonformer Gesetzesauslegung verletzt die Garantie des gesetzlichen Richters

Für die Annahme eines Verstoßes gegen Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG genügt nicht schon jede irrtümliche Überschreitung der den Fachgerichten gezogenen Grenzen. Sie kommt aber in Betracht, wenn ein Fachgericht seiner verfassungsrechtlichen Verpflichtung zur Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG nicht nachkommt und die Betroffenen so ihrem gesetzlichen Richter entzieht, zu dem in diesem Fall das BVerfG berufen ist.

Der Sachverhalt:
Die Sache betraf eine Entscheidung auf dem Gebiet des Planungsschadensrechts, mit der der BGH seine Rechtsprechung zur "isolierten" eigentumsverdrängenden Planung fortentwickelt hatte. Die Beteiligten stritten über die Höhe der Entschädigung für den Verlust des Eigentums an einem Grundstück, nachdem aufgrund sanierungsrechtlicher Vorgaben eine Bebauung des Grundstücks nicht genehmigt und im Anschluss daran auf Antrag der Eigentümer die Übernahme des Grundstücks durch die Gemeinde erfolgt war.

Auf dem Grundstück und einem angrenzenden Nachbargrundstück befindet sich nach Kriegszerstörungen bis heute keine Wohnbebauung; es handelt sich um die einzigen unbebauten Grundstücke des Straßenblocks. Seit 1993 liegt das Grundstück in einem Sanierungsgebiet. In der Begründung zur Sanierungsverordnung ist u.a. ausgeführt, dass "zur Sicherung der Grünflächenversorgung … unbebaute Grundstücke für öffentliche Freiflächen gesichert werden" müssen.

Die Enteignungsbehörde setzte die Entschädigung auf 105.500 € fest; dies entspricht einem Verkehrswertgutachten auf Basis der zum Stichtag tatsächlich ausgeübten Nutzung, während sich der Verkehrswert auf der Basis der damals planungsrechtlich zulässigen Nutzung als Baugrundstück auf 225.000 € belaufen hätte. Maßgeblich für die geringere Entschädigung war aus Sicht der Enteignungsbehörde, dass das Grundstück nicht innerhalb der Sieben-Jahres-Frist des § 42 Abs. 2 u. 3 BauGB zur zulässigen Bebauung genutzt worden war. Die Eigentümer stellten daraufhin Antrag auf gerichtliche Entscheidung.

Der fachgerichtliche Rechtsweg endete mit einer Entscheidung des BGH, nach der den Eigentümern eine Entschädigung von insgesamt 225.000 € zustehe. Bei "isolierter" eigentumsverdrängender Planung, wenn die die spätere Enteignung auslösende Planung also nicht von einer gleichzeitigen allgemeinen Nutzungsbeschränkung im Plangebiet begleitet werde, könne ungeachtet der Sieben-Jahres-Frist eine Entschädigung nach der planungsrechtlich zulässigen Nutzbarkeit verlangt werden. Dies gelte ebenso bei Ablehnung eines Bebauungsantrags wegen entgegenstehender Ziele und Zwecke der Sanierung; die Verweisung in § 95 Abs. 2 Nr. 7 BauGB sei auch in diesem Fall verfassungskonform einschränkend auszulegen.

Auf die gegen dieses Urteil gerichtete Verfassungsbeschwerde der Enteignungsbehörde hat das BVerfG die Entscheidung des BGH aufgehoben und das Verfahren zurückverwiesen.

Die Gründe:
Die Enteignungsbehörde konnte sich vorliegend auf die justiziellen Gewährleistungen aus Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG u. Art. 103 Abs. 1 GG berufen, da sie nach dem maßgeblichen Verfahrensrecht anstelle ihres Rechtsträgers am Entschädigungsverfahren beteiligt war. Der BGH hat die Garantie des gesetzlichen Richters aus Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG durch die angegriffene Entscheidung verletzt, indem er eine Vorlage zur Normenkontrolle an das BVerG infolge einer unvertretbaren verfassungskonformen Auslegung des BauGB unterlassen hatte.

Für die Annahme eines Verstoßes gegen Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG genügt nicht schon jede irrtümliche Überschreitung der den Fachgerichten gezogenen Grenzen. Sie kommt aber in Betracht, wenn das Fachgericht Bedeutung und Tragweite dieser Gewährleistung grundlegend verkannt hat oder wenn die maßgeblichen Verfahrensnormen in objektiv willkürlicher Weise fehlerhaft angewandt wurden. Ferner kann ein Fachgericht gegen Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG verstoßen, wenn es seiner verfassungsrechtlichen Verpflichtung zur Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG nicht nachkommt und die Betroffenen so ihrem gesetzlichen Richter entzieht, zu dem in diesem Fall das BVerfG berufen ist. Ein Fachgericht verletzt die Garantie des gesetzlichen Richters insbesondere dann, wenn es die Vorlage einer Norm, von deren Verfassungswidrigkeit es ansonsten überzeugt wäre, unterlässt, weil es in nicht vertretbarer Weise die Möglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung des betreffenden Gesetzes annimmt.

Zwar gilt auch hier der Grundsatz, dass nicht schon jeder Fehler des Fachgerichts bei der Anwendung einer Zuständigkeitsnorm die Annahme eines Verfassungsverstoßes rechtfertigen kann. Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass es bei Art. 100 Abs. 1 GG um die Beachtung einer Vorlageverpflichtung geht, die nicht nur - wie sonst üblich - aus dem einfachen Gesetzesrecht folgt, sondern die im Rang einer Verfassungsnorm steht. Die Bedeutung dieser Verfassungsziele rechtfertigt es, bei Verletzung des Art. 100 Abs. 1 GG im Regelfall nicht von einem bloßen unschädlichen Rechtsanwendungsfehler, sondern von einem verfassungswidrigen Entzug des gesetzlichen Richters auszugehen.

Bezogen auf die Rechtsanwendung als solche muss deshalb kein besonders schwerer Fehler des Fachgerichts vorliegen, damit eine entgegen Art. 100 Abs. 1 GG unterlassene Vorlage an das BVerfG zugleich als eine Missachtung der Garantie des gesetzlichen Richters nach Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG anzusehen ist. Entscheidend ist, ob die Rechtsanwendung im konkreten Fall - hier das Absehen von einer Vorlage mittels einer verfassungskonformen Auslegung - sachlich vertretbar ist. Daran gemessen hatte der BGH durch das Unterlassen der Vorlage zur Normenkontrolle an das BVerfG gegen Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG verstoßen.

Linkhinweis:

  • Der Volltext der Entscheidung ist auf der Homepage des BVerfG veröffentlicht.
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Verlag Dr. Otto Schmidt vom 27.01.2015 11:26
Quelle: BVerfG PM Nr. 5 vom 27.1.2015

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