Otto Schmidt Verlag

BGH 1.7.2015, XII ZB 89/15

BVerfG-Vorlage hinsichtlich der Regelungen zu ärztlichen Zwangsmaßnahmen

Das BVerfG soll entscheiden, ob § 1906 Abs. 3 BGB mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar ist. Nach Überzeugung des BGH verstößt es gegen den Gleichheitssatz, dass eine in stationärem Rahmen erfolgende ärztliche Maßnahme nach § 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB (Untersuchung des Gesundheitszustands, Heilbehandlung oder ärztlicher Eingriff) gegen den natürlichen Willen des Betroffenen nur möglich ist, wenn der Betroffene zivilrechtlich untergebracht ist, nicht jedoch, wenn eine freiheitsentziehende Unterbringung ausscheidet, weil der Betroffene sich der Behandlung räumlich nicht entziehen will und/oder aus körperlichen Gründen nicht kann.

Der Sachverhalt:
Die 63-jährige Betroffene leidet unter einer schizoaffektiven Psychose und steht deshalb unter rechtlicher Betreuung. Im August 2014 war bei ihr eine Autoimmunkrankheit diagnostiziert worden, die zu großflächigen Hautausschlägen und massiver Muskelschwäche führte. Im Zuge der Behandlung ergab sich auch der Verdacht auf Brustkrebs, der sich später bestätigte (ein noch nicht durchgebrochenes Mammakarzinom). Die Betroffene widersprach allerdings einer Behandlung der Krebserkrankung.

Inzwischen ist die Betroffene körperlich stark geschwächt und kann weder gehen noch sich selbst mittels eines Rollstuhls fortbewegen. Infolgedessen hatte die Betreuerin beim Betreuungsgericht beantragt, die Unterbringung der Betroffenen in einer geschlossenen Einrichtung sowie ärztliche Zwangsmaßnahmen zur Behandlung des Brustkrebses (Brustektomie, Brustbestrahlung, Knochenmarkspunktion zur weiteren Diagnostik) zu genehmigen. Sie war der Ansicht, die Tumorerkrankung werde im Fall der Nichtbehandlung rasch fortschreiten und unausweichlich zu Pflegebedürftigkeit, Schmerzen und letztlich zum Tod der Betroffenen führen. Diese könne aufgrund ihrer psychischen Erkrankung die Notwendigkeit von Unterbringung und Behandlung nicht erkennen und nicht nach dieser Einsicht handeln.

AG und LG verweigerten jedoch die beantragten Genehmigungen. Beide Gerichte waren der Auffassung, eine Unterbringung komme nach den gesetzlichen Vorgaben nicht in Betracht, weil die Betroffene bettlägerig sei und auch keinerlei Weglauftendenzen zeige. Ohne eine geschlossene Unterbringung gestatte das Gesetz aber auch keine ärztlichen Zwangsmaßnahmen.

Auf die Rechtsbeschwerde der Betreuerin, mit der sie namens der Betroffenen die Anträge auf Genehmigung der Unterbringung und der Einwilligung in die ärztlichen Zwangsmaßnahmen weiterverfolgte, hat der BGH das Rechtsbeschwerdeverfahren ausgesetzt und dem BVerfG die Frage vorgelegt, ob § 1906 Abs. 3 BGB mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar ist.

Die Gründe:
Das von den Vorinstanzen vertretene Verständnis der einfachrechtlichen Bestimmungen zu ärztlichen Zwangsmaßnahmen ist zwar durchaus zutreffend. Denn der Gesetzeswortlaut und der im Gesetzgebungsverfahren eindeutig zu Tage getretene Wille des Gesetzgebers lassen keine andere Gesetzesauslegung zu. Nach Überzeugung des XII. Senats verstößt es aber gegen den Gleichheitssatz, dass eine in stationärem Rahmen erfolgende ärztliche Maßnahme nach § 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB (Untersuchung des Gesundheitszustands, Heilbehandlung oder ärztlicher Eingriff) gegen den natürlichen Willen des Betroffenen nur möglich ist, wenn der Betroffene zivilrechtlich untergebracht ist, nicht jedoch, wenn eine freiheitsentziehende Unterbringung ausscheidet, weil der Betroffene sich der Behandlung räumlich nicht entziehen will und/oder aus körperlichen Gründen nicht kann.

Bei den Regelungen zu ärztlichen Zwangsmaßnahmen und zivilrechtlichen Unterbringungen handelt es sich - wie beim gesamten Betreuungsrecht - um Institute des Erwachsenenschutzes als Ausdruck der staatlichen Wohlfahrtspflege, deren Anlass und Grundlage das öffentliche Interesse an der Fürsorge für den schutzbedürftigen Einzelnen ist. Dementsprechend stellen sie sich nicht nur als Grundrechtseingriffe, sondern vor allem auch als den Betroffenen begünstigende Maßnahmen der staatlichen Fürsorge dar. Ihr Zweck besteht insbesondere darin, den Anspruch des Betroffenen auf Schutz und Behandlung umzusetzen, wenn er krankheitsbedingt keinen freien Willen bilden kann und sich dadurch erheblich schädigen würde.

Dass dies nur mittels schwerwiegender Eingriffe in die Grundrechte des Betroffenen möglich ist, ändert an diesem begünstigenden Charakter nichts. Ein hinreichender Grund, solche Betroffene von der Begünstigung auszuschließen, die sich einer dringend erforderlichen stationären Behandlung zwar verweigern, aber räumlich nicht entziehen wollen und/oder können, besteht nicht. Die Gesetz gewordene gegenteilige Meinung läuft u.a. darauf hinaus, dass dem noch zum "Weglaufen" Fähigen geholfen werden kann, während etwa derjenige, der aufgrund der Krankheit schon zu schwach für ein räumliches Entfernen ist, auch bei schwersten Erkrankungen seiner Krankheit überlassen bleiben muss.

Linkhinweise:

  • Der Volltext dieser Entscheidung wird demnächst auf den Webseiten des BGH veröffentlicht.
  • Für die Pressemitteilung des BGH klicken Sie bitte hier.

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 14.07.2015 17:15
Quelle: BGH PM Nr. 120 vom 14.7.2015

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