Otto Schmidt Verlag

FG Münster 24.11.2015, 14 K 1542/15 AO (PKH)

Vernichtung von Originalunterlagen durch die Behörde kann zu ihrem Nachteil gewertet werden

Kann nicht mehr festgestellt werden, ob eine Unterschrift unter einer Zahlungsanweisung tatsächlich vom Kindergeldberechtigten stammt, weil die Familienkasse die Originalunterlagen nach Einscannen zwecks Erstellung einer elektronischen Kindergeldakte vernichtet hat, kann sie sich nicht mehr auf das Dokument berufen. In solchen Fällen muss es der Rechtsstaat aushalten, dass ein möglicherweise zugunsten der Finanzbehörde entstandener Anspruch nicht mehr festgesetzt werden kann.

Der Sachverhalt:
Die Beteiligten streiten im Klageverfahren darüber, ob die Familienkasse von ihr für die Monate Januar 2008 bis November 2014 (Streitzeitraum) ausgezahltes Kindergeld zu Recht zurückgefordert hat. Die Familienkasse hatte das für die beiden Kinder der Antragstellerin festgesetzte Kindergeld zunächst auf ein von ihr angegebenes Konto überwiesen. Im Jahr 2010 ging ein unterschriebenes Formular "Veränderungsanzeige" bei der Familienkasse ein, das Namen, Anschrift und Kindergeldnummer der Antragstellerin sowie die Eintragung enthält, dass das Kindergeld nunmehr auf ein anderes Konto überwiesen werden soll, dessen Inhaber die Mutter der Antragstellerin und der Vater der Kinder waren. Die Familienkasse überwies das Kindergeld fortan auf das angegebene Konto.

Später stellte die Familienkasse fest, dass die Voraussetzungen für die Gewährung von Kindergeld nicht mehr vorlagen. Daraufhin hob sie im Jahr 2015 die Festsetzung ab März 2010 auf und forderte die Antragstellerin zur Rückzahlung auf. Diese wandte gegen den Rückforderungsbescheid ein, dass ihre Unterschrift auf der Veränderungsanzeige gefälscht sei und sie sich zum Zeitpunkt der Abgabe dieses Dokuments gar nicht in Deutschland aufgehalten habe. Im Rahmen des Klageverfahrens, für das die Antragstellerin Prozesskostenhilfe beantragte, teilte die Familienkasse dem Gericht mit, dass die Kindergeldakte nicht mehr im Original vorgelegt werden könne, weil diese nach dem Einscannen vernichtet worden sei und nur noch elektronisch geführt werde.

Das FG gab dem Antrag auf Prozesskostenhilfe statt.

Die Gründe:
Für den Zeitraum März 2010 bis November 2014 bietet das Klagebegehren hinreichende Aussicht auf Erfolg, weil die Antragstellerin bei summarischer Prüfung nicht Leistungsempfängerin des ausgezahlten Kindergeldes war und der Rückforderungsbescheid folglich nicht an sie zu richten war.

Aller Voraussicht nach wird die Familienkasse den ihr obliegenden Beweis dafür, dass die Veränderungsanzeige tatsächlich von der Antragstellerin stammt, nicht erbringen können. Selbst wenn ein Sachverständigengutachten ergäbe, dass die Unterschrift von der Antragstellerin stammt, wäre dennoch nicht auszuschließen, dass die Unterschrift im Wege einer Fotokopie oder einer technischen Manipulation auf das Dokument gelangt ist.

Derartige Manipulationen, etwa durch Einkopieren einer echten Unterschrift in ein anderes Schriftstück, können anders als bei einem Schriftstück mit einer Originalunterschrift kaum festgestellt werden. Gerade wegen dieser technischen Manipulationsmöglichkeiten lehnen es Schriftsachverständige regelmäßig ab, eine ihnen nicht im Original vorgelegte Handschrift auf ihre Echtheit zu überprüfen.

Hinzu kommt, dass eine Finanzbehörde ihre Ansprüche gerade nicht mehr auf entscheidungserhebliche Originalunterlagen stützen darf, die sie selbst während des laufenden Verfahrens vernichtet hat. In solchen Fällen muss es der Rechtsstaat vielmehr aushalten, dass in einem Einzelfall ein möglicherweise zugunsten der Finanzbehörde entstandener Anspruch nicht mehr festgesetzt werden kann, weil die Beweismittel im Bereich der Finanzverwaltung vernichtet worden sind und sich die vom Steuerpflichtigen angerufenen Gerichte daher kein eigenes Bild vom Sachverhalt mehr machen können.

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Verlag Dr. Otto Schmidt vom 15.01.2016 14:39
Quelle: FG Münster NL vom 15.1.2016

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