Otto Schmidt Verlag

BGH v. 22.8.2019 - III ZR 113/18

BGH präzisiert Schutzpflichten von Wohnheimen für Menschen mit einer geistigen Behinderung

Ein Heimbewohner, der dem Heimträger zum Schutz seiner körperlichen Unversehrtheit anvertraut ist, kann erwarten, dass der Heimträger ihn jedenfalls vor einer in einer DIN-Norm beschriebenen Gefahrenlage schützt, wenn er selbst auf Grund körperlicher oder geistiger Einschränkungen nicht in der Lage ist, die Gefahr eigenverantwortlich zu erkennen und angemessen auf sie zu reagieren. Insofern ist auch der Inhalt der seit Juni 2005 geltenden DIN EN 806-2 ("Technische Regeln für Trinkwasser-Installationen – Teil 2: Planung") in den Blick zu nehmen.

Der Sachverhalt:
Die Beklagte ist Trägerin eines Wohnheims für Menschen mit einer geistigen Behinderung. Die 1969 geborene Klägerin lebte dort seit März 2012. Sie hat durch das Prader-Willi-Syndrom eine deutliche Intelligenzminderung. Im April 2013 hatte die Klägerin beabsichtigt, ein Bad zu nehmen, und fragte eine der Betreuerinnen des Heimes um entsprechende Erlaubnis. Diese wurde ihr - wie auch schon zuvor - erteilt. Die Klägerin ließ daraufhin heißes Wasser in eine mobile, in der Dusche bereit gestellte Sitzbadewanne ein, wobei die Temperaturregelung über einen Einhebelmischer ohne Begrenzung der Heißwassertemperatur erfolgte. Anders als in früheren Fällen war allerdings das ausströmende Wasser so heiß, dass die Klägerin schwerste Verbrühungen an beiden Füßen und Unterschenkeln erlitt. Sie schrie laut, konnte sich aber nicht selbst aus der Situation befreien. Dies gelang erst, als ein anderer Heimbewohner ihr zur Hilfe eilte und eine Pflegekraft herbeirief.

In der Folgezeit wurden mehrere Hauttransplantationen durchgeführt. Es kam zu erheblichen Komplikationen, so wurde die Klägerin u.a. mit einem multiresistenten Keim infiziert. Sie ist inzwischen auf einen Rollstuhl angewiesen, weil sich so genannte Spitzfüße gebildet haben. Außerdem verschlechterte sich ihr psychischer Zustand, was sich u.a. in häufigen und langen Schreianfällen äußert. Die Klägerin machte geltend, das austretende Wasser müsse annähernd 100 °C heiß gewesen sein. In der DIN EN 806-2 für die Planung von Trinkwasserinstallationen werde für bestimmte Einrichtungen wie Krankenhäuser, Schulen und Seniorenheime eine Höchsttemperatur von 43 °C, in Kindergärten und Pflegeheimen sogar von nur 38 °C empfohlen. Es sei pflichtwidrig gewesen, sie ohne Aufsicht und insbesondere ohne Kontrolle der Wassertemperatur ein Bad nehmen zu lassen.

Das LG hat die Klage auf Zahlung eines Schmerzensgeldes von mind. 50.000 € und einer monatlichen Rente von 300 € sowie auf Feststellung der Ersatzpflicht der Beklagten für weitere materielle und immaterielle Schäden abgewiesen. Auch die Berufung blieb erfolglos. Nach Ansicht des OLG kann aus der DIN EN 806-2 keine Pflicht der Beklagten hergeleitet werden, die Wasserentnahmestelle mit einer Temperaturbegrenzung auszustatten. Denn es handele sich um eine technische Regel, die die Planung von Trinkwasseranlagen betreffe und überdies erst 2005 und damit erst Jahrzehnte nach Errichtung des Wohnheimgebäudes in Kraft getreten sei. Da die Klägerin habe stets problemlos allein geduscht und gebadet habe, könne den Mitarbeitern der Beklagten auch nicht vorgeworfen werden, die Klägerin beim Baden nicht beaufsichtigt und die Wassertemperatur nicht kontrolliert zu haben. Sie sei vor dem Unfall in eine Hilfsbedarfsgruppe eingestuft gewesen, die für einen relativ hohen Grad an Selbständigkeit spreche.

Auf die Revision der Klägerin hat der BGH das Urteil aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das OLG zurückverwiesen.

Gründe:
Ein Heimbetreiber hat die Pflicht, unter Wahrung der Würde und des Selbstbestimmungsrechts der ihm anvertrauten Bewohner diese vor Gefahren zu schützen, die sie nicht beherrschen. Welchen konkreten Inhalt die Verpflichtung hat, einerseits die Menschenwürde und das Freiheitsrecht eines körperlich oder geistig beeinträchtigten Heimbewohners zu achten und andererseits sein Leben und seine körperliche Unversehrtheit zu schützen, kann nicht generell, sondern nur aufgrund einer Abwägung sämtlicher Umstände des jeweiligen Einzelfalls entschieden werden.

In diese Einzelfallabwägung können auch technische Regelungen wie insbesondere DIN-Normen einzubeziehen sein, die in Hinblick auf eine bestimmte Gefahrenlage bestehen. Zwar haben DIN-Normen als technische Regeln keine normative Geltung. Da sie jedoch die widerlegliche Vermutung in sich tragen, den Stand der allgemein anerkannten Regeln der Technik wiederzugeben, sind sie zur Bestimmung des nach der Verkehrsauffassung Gebotenen in besonderer Weise geeignet und können deshalb regelmäßig zur Feststellung von Inhalt und Umfang bestehender Verkehrssicherungspflichten herangezogen werden.

Ein Heimbewohner, der dem Heimträger zum Schutz seiner körperlichen Unversehrtheit anvertraut ist, kann erwarten, dass der Heimträger ihn jedenfalls vor einer in einer DIN-Norm beschriebenen Gefahrenlage schützt, wenn er selbst auf Grund körperlicher oder geistiger Einschränkungen nicht in der Lage ist, die Gefahr eigenverantwortlich zu erkennen und angemessen auf sie zu reagieren. Um die daraus folgende Obhutspflicht zu erfüllen, muss der Heimträger, soweit dies mit einem vernünftigen finanziellen und personellen Aufwand möglich und für die Heimbewohner sowie das Pflege- und Betreuungspersonal zumutbar ist, nach seinem Ermessen entweder die Empfehlungen der DIN-Norm umsetzen oder aber die erforderliche Sicherheit gegenüber der dieser Norm zugrunde liegenden Gefahr auf andere Weise gewährleisten, um Schäden der Heimbewohner zu vermeiden.

Infolgedessen war auch der Inhalt der seit Juni 2005 geltenden DIN EN 806-2 ("Technische Regeln für Trinkwasser-Installationen – Teil 2: Planung") in den Blick zu nehmen. Nach Satz 1 der Nr. 9.3.2 sind Anlagen für erwärmtes Trinkwasser so zu gestalten, dass das Risiko von Verbrühungen gering ist. Entsprechend wird in Satz 2 ausgeführt, dass an "Entnahmestellen mit besonderer Beachtung der Auslauftemperaturen" (z.B. Krankenhäuser, Schulen, Seniorenheime - die Aufzählung ist nicht abschließend) thermostatische Mischventile oder -batterien mit Begrenzung der oberen Temperatur eingesetzt werden sollten. Dabei wird in Satz 3 eine Temperatur von höchstens 43 °C empfohlen.

Der DIN ist über ihren unmittelbaren Anwendungsbereich hinaus allgemeingültig zu entnehmen, dass bei Warmwasseranlagen das Risiko von Verbrühungen besteht, wenn die Auslauftemperatur mehr als 43 °C beträgt, und deshalb in Einrichtungen mit einem besonders schutzbedürftigen Benutzerkreis ("Krankenhäuser, Schulen, Seniorenheime usw.") spezielle Sicherheitsvorkehrungen zur Verminderung des Risikos von Verbrühungen erforderlich sind. Nach dem sicherheitstechnischen Zweck der Empfehlung sollen die geschilderte apparative Temperaturbegrenzung oder andere geeignete Sicherheitsvorkehrungen überall dort zum Einsatz kommen, wo im Rahmen einer für das Wohl der Bewohner verantwortlichen Einrichtung Personen leben, die auf Grund ihrer körperlichen oder geistigen Verfassung nicht in der Lage sind, die mit heißem Wasser verbundenen Gefahren zu beherrschen, und deshalb ein besonderer Schutz vor Verbrühungen erforderlich ist.

Die Klägerin hatte vorgetragen, nach der Art und dem Ausmaß ihrer Behinderung habe sie zu dem hiernach schutzbedürftigen Personenkreis gehört. Da das OLG hierzu noch keine Feststellungen getroffen hatte, war das Vorbringen im Revisionsverfahren zugrunde zu legen. Danach hätte die Beklagte aus den vorstehenden Gründen entweder eine Begrenzung der Temperatur des austretenden Wassers entsprechend den Empfehlungen der DIN EN 806-2 technisch sicherstellen müssen. Dies wäre ohne Umbau oder Erneuerung der gesamten Heizungsanlage allein durch Austausch der Mischarmaturen in der Dusche möglich gewesen. Oder aber ohne eine solche Änderung an der Wasserinstallation hätte die Klägerin vor Schaden bewahrt werden müssen, indem die Temperatur des Badewassers durch eine Betreuungsperson der Einrichtung überprüft worden wäre. Insofern muss das OLG im weiteren Verfahren Feststellungen dazu nachholen, ob der Vortrag der Klägerin zu den Auswirkungen ihrer Behinderung auf ihre Schutzbedürftigkeit zutrifft.

Linkhinweise:
 

  • Der Volltext dieser Entscheidung wird demnächst auf den Webseiten des BGH veröffentlicht.
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Verlag Dr. Otto Schmidt vom 22.08.2019 17:52
Quelle: BGH PM Nr. 112 vom 22.8.2019

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