Otto Schmidt Verlag

BGH v. 4.12.2019 - IV ZR 323/18

Künstliche Befruchtung: Kassen müssen auch für späten Kinderwunsch aufkommen

Für die Beurteilung der medizinischen Notwendigkeit einer In-vitro-Fertilisation (IVF) mit intracytoplasmatischer Spermieninjektion (ICSI) sind deren Erfolgsaussichten grundsätzlich nur am Behandlungsziel der Herbeiführung einer Schwangerschaft zu messen. Das Selbstbestimmungsrecht der Ehegatten umfasst grundsätzlich auch die Entscheidung, sich den Kinderwunsch in fortgeschrittenem Alter unter Inkaufnahme altersspezifischer Risiken zu erfüllen.

Der Sachverhalt:
Der Kläger, der an einer Kryptozoospermie leidet und auf natürlichem Wege keine Kinder zu zeugen vermag, hatte den beklagten Versicherungsverein (sein privater Krankenversicherer) auf Erstattung der Kosten für insgesamt vier Behandlungszyklen einer In-vitro-Fertilisation (IVF) mit intracytoplasmatischer Spermieninjektion (ICSI) und anschließendem Embryotransfer in Anspruch genommen. Der Beklagte lehnte die Übernahme der auf insgesamt 17.508 € bezifferten Kosten ab, weil die Voraussetzungen einer "medizinisch notwendigen Heilbehandlung" i.S.v. von § 1 Abs. 2 Satz 1 der Versicherungsbedingungen (im Folgenden: MB/KK) nicht vorgelegen hätten. Er verwies dabei u.a. auf das Alter der im Juli 1966 geborenen Ehefrau des Klägers und eine für ihre Altersgruppe dokumentierte erhöhte Abortrate.

Das LG gab der auf Zahlung des vorgenannten Betrags nebst Rechtsanwaltsgebühren und Zinsen gerichteten Klage statt. Die dagegen gerichtete Berufung des Beklagten hat das Berufungsgericht nach ergänzender Beweisaufnahme im Wesentlichen zurückgewiesen und das vorinstanzliche Urteil nur insoweit geändert, als das LG die vertraglich vereinbarte jährliche Selbstbeteiligung des Klägers von jeweils 1.160 € unberücksichtigt gelassen hatte. Die hiergegen gerichtete Revision des Beklagten, mit der er den Antrag auf vollumfängliche Klageabweisung weiterverfolgt hatte, blieb vor dem BGH erfolglos.

Gründe:
Dem Kläger steht ein (lediglich um die Selbstbeteiligung zu kürzender) Anspruch auf Erstattung der für die IVF/ICSI-Behandlungen aufgewendeten Kosten zu.

Nach der Rechtsprechung des Senats ist von einer nicht mehr ausreichenden Erfolgsaussicht - und damit von einer nicht mehr gegebenen bedingungsgemäßen medizinischen Notwendigkeit der IVF/ICSI-Behandlung - dann auszugehen, wenn die Wahrscheinlichkeit, dass ein Embryotransfer zur gewünschten Schwangerschaft führt, signifikant absinkt und eine Erfolgswahrscheinlichkeit von 15 % nicht mehr erreicht wird (Senatsurteil vom 21.9.2005 - IV ZR 133/04). Auszugehen ist von der durch das IVF-Register umfassend dokumentierten Erfolgswahrscheinlichkeit der Behandlungen in Abhängigkeit vom Lebensalter der Frau. In einem zweiten Schritt ist zu prüfen, inwieweit individuelle Faktoren ihre Einordnung in die ihrem Lebensalter entsprechende Altersgruppe rechtfertigen, ob also ihre persönlichen Erfolgsaussichten höher oder niedriger einzuschätzen sind, als die im IVF-Register für ihre Altersgruppe ermittelten Durchschnittswerte es ausweisen. Die Würdigung der erhobenen Beweise ist grundsätzlich dem Tatrichter vorbehalten.

Diesen Anforderungen wird die angefochtene Entscheidung gerecht. Insbesondere hat das Berufungsgericht - anders als die Revision meint - die Anzahl der Behandlungen in den Blick genommen und berücksichtigt, dass eine Vielzahl an vergeblichen Versuchen die individuelle Erfolgsaussicht zu verringern vermag. Dass es dabei zu dem Ergebnis gelangt ist, hier sei es aufgrund besonderer individueller Faktoren dennoch gerechtfertigt, die Erfolgsaussichten der Behandlungen jeweils höher einzuschätzen als vom IVF-Register für die Altersgruppe der Ehefrau des Klägers generell ausgewiesen, ist rechtlich nicht zu beanstanden.

Das Selbstbestimmungsrecht der Ehegatten umfasst grundsätzlich auch die Entscheidung, sich den Kinderwunsch in fortgeschrittenem Alter unter Inkaufnahme altersspezifischer Risiken zu erfüllen. Hiermit wäre es grundsätzlich nicht vereinbar, die medizinische Notwendigkeit der IVF/ICSI-Behandlung über die Erfolgswahrscheinlichkeit der Herbeiführung einer Schwangerschaft hinaus auch am voraussichtlichen weiteren Verlauf der Schwangerschaft zu messen, soweit sich diese Prognose allein auf generelle statistische Erkenntnisse stützt. Anders kann es allenfalls dann liegen, wenn aufgrund individueller gesundheitlicher Beeinträchtigungen der Eltern eine Lebendgeburt wenig wahrscheinlich erscheint, was hier aber nicht der Fall war.
 


Verlag Dr. Otto Schmidt vom 03.01.2020 14:38
Quelle: BGH online

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