Otto Schmidt Verlag

BVerfG v. 19.11.2019 - 2 BvL 22/14 u.a.

Regelungen zur steuerlichen Behandlung von Erstausbildungskosten verfassungsgemäß

Es verstößt nicht gegen das GG, dass Aufwendungen für die erstmalige Berufsausbildung oder für ein Erststudium, das zugleich eine Erstausbildung vermittelt, nach dem EStG nicht als Werbungskosten abgesetzt werden können. Der Gesetzgeber durfte solche Aufwendungen als privat (mit-)veranlasst qualifizieren und den Sonderausgaben zuordnen. Die Erstausbildung oder das Erststudium unmittelbar nach dem Schulabschluss vermittelt nicht nur Berufswissen, sondern prägt die Person in einem umfassenderen Sinne, indem sie die Möglichkeit bietet, sich seinen Begabungen und Fähigkeiten entsprechend zu entwickeln und allgemeine Kompetenzen zu erwerben, die nicht zwangsläufig für einen künftigen konkreten Beruf notwendig sind. Auch die Begrenzung des Sonderausgabenabzugs für Erstausbildungskosten auf einen Höchstbetrag von 4.000 € (in den Streitjahren; heute 6.000 €) ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

Der Sachverhalt:
§ 9 Abs. 6 EStG nimmt Aufwendungen für die erstmalige Berufsausbildung oder für ein Erststudium, das zugleich eine Erstausbildung vermittelt, generell von dem Begriff der Werbungskosten aus. Die Vorschrift konkretisiert den allgemeinen Werbungskostenabzugstatbestand des § 9 Abs. 1 Sätze 1 und 2 EStG dahingehend, dass diese Aufwendungen in keinem Fall beruflich veranlasst und damit weder unbeschränkt abzugsfähig sind noch als negative Einkünfte in andere Veranlagungszeiträume zurück- oder vorgetragen werden können. Stattdessen mindern sie lediglich als Sonderausgaben - in den Streitjahren bis zur Höhe von 4.000 €, heute bis zur Höhe von 6.000 € - das zu versteuernde Einkommen in dem Jahr, in dem sie anfallen.

Dagegen können Aufwendungen für weitere Ausbildungen und für Erstausbildungen, die im Rahmen eines Dienstverhältnisses stattfinden, wie andere Aufwendungen zur Erwerbung, Sicherung und Erhaltung der Einnahmen als Werbungskosten abzugsfähig sein, soweit sie beruflich veranlasst sind. Eine berufliche Veranlassung ist nach der Rechtsprechung des BFH gegeben, wenn ein objektiver Zusammenhang mit dem Beruf besteht und die Aufwendungen subjektiv zur Förderung des Berufs getätigt werden. Ein Werbungskostenabzug setzt nicht voraus, dass der Steuerpflichtige gegenwärtig bereits Einnahmen erzielt. Erforderlich ist, dass die Aufwendungen in einem hinreichend konkreten, objektiv feststellbaren Veranlassungszusammenhang mit späteren Einnahmen stehen.

Die Kläger der sechs Ausgangsverfahren begehrten jeweils die Anerkennung der Kosten für ihr Erststudium bzw. für ihre Ausbildung zum Flugzeugführer als Werbungskosten. In der Revisionsinstanz hat der BFH alle Verfahren ausgesetzt und dem BVerfG die Frage zur Entscheidung vorgelegt, ob die § 9 Abs. 6 EStG in der Fassung des Beitreibungsrichtlinie-Umsetzungsgesetzes vom 7.12.2011 insoweit mit dem GG vereinbar ist, als danach Aufwendungen des Steuerpflichtigen für seine erstmalige Berufsausbildung oder für ein Erststudium, das zugleich eine Erstausbildung vermittelt, keine Werbungskosten sind, wenn diese Berufsausbildung oder dieses Erststudium nicht im Rahmen eines Dienstverhältnisses stattfindet und auch keine weiteren einkommensteuerrechtlichen Regelungen bestehen, nach denen die vom Abzugsverbot betroffenen Aufwendungen die einkommensteuerliche Bemessungsgrundlage mindern.

Die Gründe:
§ 9 Abs. 6 EStG in der verfahrensgegenständlichen Fassung ist mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar.

§ 9 Abs. 6 EStG bewirkt eine steuerliche Ungleichbehandlung von Aufwendungen des Steuerpflichtigen für seine erstmalige Berufsausbildung oder für ein Erststudium, das zugleich eine Erstausbildung vermittelt (Erstausbildungskosten), mit Aufwendungen zur Erwerbung, Sicherung und Erhaltung von Einnahmen, zu denen auch Aufwendungen für zweite oder weitere Ausbildungen sowie Aufwendungen für eine erste Berufsausbildung oder ein Erststudium gehören können, die im Rahmen eines Dienstverhältnisses stattfinden. Diese Differenzierung ist am Gleichheitssatz in seiner Eigenschaft als Willkürverbot zu messen. Entscheidend für den Zugang zu einer bestimmten Ausbildung oder Ausbildungsstelle ist deren Finanzierbarkeit durch die Auszubildenden und Studierenden. Diese hängt maßgeblich davon ab, ob und in welcher Höhe den Betroffenen während der Ausbildung eigene Einkünfte oder eigenes Vermögen zur Verfügung stehen bzw. ihnen Unterhaltsansprüche oder Ansprüche nach dem BAföG zustehen. Diese Finanzierungsmöglichkeiten sind unabhängig davon, ob Aufwendungen für die Ausbildung in spätere Veranlagungszeiträume vorgetragen werden können. Dies gilt auch für eine Kreditfinanzierung der Ausbildung, weil es für deren Inanspruchnahme darauf ankommt, wie potentielle Kreditgeber die Kreditwürdigkeit im Ausbildungszeitraum beurteilen.

Für die Zuordnung der Aufwendungen für eine Erstausbildung zu den Sonderausgaben gibt es sachlich einleuchtende Gründe. Der Gesetzgeber durfte diese Aufwendungen als wesentlich privat (mit-)veranlasst qualifizieren. Nach Auffassung des Gesetzgebers gehört die erste Berufsausbildung typischerweise zu den Grundvoraussetzungen für die Lebensführung, weil sie Vorsorge für die persönliche Existenz bedeutet und dem Erwerb einer selbstständigen und gesicherten Position im Leben dient. Er ordnet deshalb Aufwendungen für die erste Berufsausbildung ebenso wie Aufwendungen für Erziehung und andere Grundbedürfnisse schwerpunktmäßig den Kosten der Lebensführung zu. Diese Wertung des Gesetzgebers ist nicht zu beanstanden. Die Erstausbildung oder das Erststudium unmittelbar nach dem Schulabschluss vermittelt nicht nur Berufswissen, sondern prägt die Person in einem umfassenderen Sinne, indem sie die Möglichkeit bietet, sich seinen Begabungen und Fähigkeiten entsprechend zu entwickeln und allgemeine Kompetenzen zu erwerben, die nicht zwangsläufig für einen künftigen konkreten Beruf notwendig sind. Der Gesetzgeber durfte auch den objektiven Zusammenhang mit einem konkreten späteren Beruf als typischerweise gering ausgeprägt bewerten. Denn die Regelung erfasst insbesondere rein schulische Ausbildungen und das Hochschulstudium unmittelbar im Anschluss an den zum Studium berechtigenden Schulabschluss.

Auch bei einer stark auf einen bestimmten späteren Beruf ausgerichteten Erstausbildung liegt eine private Mitveranlassung vor. Dass eine berufliche Veranlassung überwiegt und den Schwerpunkt bildet, indiziert noch nicht zwangsläufig eine unbedeutende private Mitveranlassung und umgekehrt. Der Gesetzgeber durfte deshalb jedenfalls von gemischt veranlasstem Aufwand ausgehen, bei dem private und berufliche Veranlassungselemente untrennbar sind und den er daher systematisch den Sonderausgaben zuordnen durfte. Auch Erstausbildungen, die wie die Pilotenausbildung einen konkreten Veranlassungszusammenhang mit einer später ausgeübten Erwerbstätigkeit aufweisen, schaffen erstmalig die Voraussetzungen für eine selbstbestimmte Lebensführung und vermitteln Kompetenzen, die allgemein die Lebensführung der Auszubildenden beeinflussen. Die Differenzierung zwischen Erstausbildungsaufwand und den Aufwendungen für Zweit- und weitere Ausbildungen hält einer gleichheitsrechtlichen Überprüfung ebenfalls stand. Für letztere richtet sich die Zuordnung zu den Werbungskosten nach den einfachrechtlichen Grundsätzen. Entscheidend ist mithin, ob im Einzelfall eine berufliche Veranlassung gegeben ist. Diese Regelung ist sachlich gerechtfertigt, weil die Gründe für eine Zweit- oder weitere Ausbildung so heterogen sind, dass sie sich einer typisierenden Erfassung als maßgeblich privat (mit-)veranlasst entziehen. Und schließlich ist auch für die Differenzierung zwischen Erstausbildungen und Erststudiengängen innerhalb und außerhalb eines Dienstverhältnisses ein sachlich einleuchtender Grund gegeben.

Die Begrenzung des Sonderausgabenabzugs für Erstausbildungskosten auf einen Höchstbetrag von 4.000 € in den Streitjahren verstößt nicht gegen das Gebot der Steuerfreiheit des Existenzminimums. Der existenzielle Bedarf des Auszubildenden wird während der Erstausbildung grundsätzlich durch die zivilrechtliche Unterhaltspflicht der Eltern gedeckt. Alternativ oder kumulativ erfolgt eine sozialrechtliche finanzielle Unterstützung, vorrangig durch Ansprüche auf Leistungen nach dem BAföG. Soweit die Auszubildenden/Studierenden eigenes Einkommen haben, wird das Existenzminimum durch den Grundfreibetrag abgedeckt. Er betrug in den Streitjahren 2004 bis 2008 jeweils 7.664 €. Zusätzlich wurden die Erstausbildungskosten in den Streitjahren nach § 10 Abs. 1 Nr. 7 EStG als Sonderausgaben bis zu einer Höhe von 4.000 € berücksichtigt; seit dem Veranlagungszeitraum 2012 gilt eine Höchstgrenze von 6.000 €. Jedenfalls ein darüberhinausgehender Ausbildungsaufwand ist nicht dem Existenzminimum zuzurechnen. Vergleichsebene für die Quantifizierung des Existenzminimums ist das sozialhilferechtlich gewährleistete Leistungsniveau. Aufwendungen i.S.v. § 10 Abs. 1 Nr. 7 EStG in einer Höhe, die den Höchstbetrag der danach abzugsfähigen Sonderausgaben überschreitet, sind weder von der Sozialhilfe noch von den Leistungen nach dem BAföG umfasst. Die Höchstbetragsgrenze ist schließlich auch bei einer Würdigung von Erstausbildungsaufwand im Lichte betroffener Grundrechte, zu der der Gesetzgeber auch dann verpflichtet ist, wenn er diesen zulässigerweise der Sphäre der allgemeinen (privaten) Lebensführung zuordnet, nicht zu beanstanden.


Verlag Dr. Otto Schmidt vom 10.01.2020 18:04
Quelle: BVerfG PM Nr. 2 vom 10.1.2020

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