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EuGH-Vorabentscheidung: Schlussanträge zum Ausschluss von EU-Bürgern von sozialen Grundleistungen

Generalanwalt Pitruzzella hat am 14.5.2020 seine Schlussanträge in der Rechtssache C-181/19 (Jobcenter Krefeld) zu der Frage vorgelegt, in welchem Umfang ein Aufnahmemitgliedstaat einem ehemaligen Wanderarbeitnehmer, der eine Beschäftigung sucht und die elterliche Sorge für seine beiden in diesem Staat zur Schule gehenden Kinder wahrnimmt, Sozialhilfe gewähren muss.

Der Sachverhalt:
JD, ein polnischer Staatsbürger, der mit seinen beiden schulpflichtigen Töchtern in Deutschland lebt, hat für einen Zeitraum vorübergehender Arbeitslosigkeit Leistungen der sozialen Grundsicherung nach dem SGB II beantragt. Das Jobcenter Krefeld lehnte den Antrag mit der Begründung ab, dass sich JD nur noch zum Zweck der Arbeitssuche in Deutschland aufhalte.

Da JD im fraglichen Zeitraum weder erwerbstätig war noch über ausreichende Existenzmittel verfügte, konnte er sich weder auf ein Daueraufenthaltsrecht noch auf seine frühere Arbeitnehmereigenschaft berufen. Er besaß jedoch ein Aufenthaltsrecht nach Art. 10 der VO Nr. 492/2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer, das sich von dem Aufenthaltsrecht seiner beiden in Deutschland zur Schule gehenden Töchter ableitete.

Das mit dem Rechtsstreit in zweiter Instanz befasste LSG NRW hat dem EuGH eine Reihe von Fragen zu Vorabentscheidung vorgelegt. Dabei geht es insbesondere um die Frage, ob der in § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 Buchst. c SGB II vorgesehene Leistungsausschluss mit dem Unionsrecht vereinbar ist. Nach dieser Bestimmung sind Ausländerinnen und Ausländer, die ihr Aufenthaltsrecht allein oder neben einem Aufenthaltsrecht nach Buchstabe b [Arbeitssuche] aus Artikel 10 der VO Nr. 492/2011 ableiten, von den hier in Rede stehenden Leistungen der sozialen Grundsicherung ausgeschlossen.

Die Gründe:
In seinen Schlussanträgen von heute schlägt Generalanwalt Pitruzzella dem EuGH vor, dem LSG NRW wie folgt zu antworten:

1. Leistungen der sozialen Grundsicherung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden stellen soziale Vergünstigungen iSv Art. 7 Abs. 2 der VO (EU) Nr. 492/2011 dar.

2. Art. 24 der RL 2004/38/EG soll nicht die Frage der Anwendung des Grundsatzes der Gleichbehandlung auf einen Unionsbürger regeln, dem ein Aufenthaltsrecht auf der Grundlage von Art. 10 der VO Nr. 492/2011 zusteht.

3. Art. 7 Abs. 2 und Art. 10 der VO Nr. 492/2011 sind dahin auszulegen, dass einem ehemaligen Wanderarbeitnehmer, dessen Kinder im Aufnahmemitgliedstaat zur Schule gehen und dem ein Aufenthaltsrecht auf der Grundlage von Art. 10 dieser VO zusteht, ein Anspruch auf Gleichbehandlung in Bezug auf den Zugang zu sozialen Vergünstigungen wie Leistungen der sozialen Grundsicherung zuerkannt werden muss.

4. Art. 10 der VO Nr. 492/2011 ist dahin auszulegen, dass Kindern mit einem Aufenthaltsrecht auf der Grundlage dieser Bestimmung und dem Elternteil, der die elterliche Sorge für diese Kinder tatsächlich wahrnimmt, ein Recht auf Zugang zu den Leistungen der sozialen Grundsicherung zuzuerkennen ist.

Im Rahmen seiner Ausführungen zu Antwortvorschlag 2 weist Generalanwalt Pitruzzella darauf hin, dass es im Urteil Alimanovic von 2015 (siehe Pressemitteilung Nr. 101/15: „Ein Mitgliedstaat kann Unionsbürger, die in diesen Staat zur Arbeitssuche einreisen, von bestimmten beitragsunabhängigen Sozialleistungen ausschließen") bereits um die gleichen Leistungen des SGB II wie im vorliegenden Fall gegangen sei. Jenes Urteil sei aber darauf gestützt, dass Frau Alimanovic und ihre Tochter lediglich ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitssuche gehabt hätten, nicht hingegen, wie im vorliegenden Fall JD, ein Aufenthaltsrecht aus Art. 10 der VO Nr. 492/2011.

Die Ausnahmeregelung des Art. 24 Abs. 2 der Unionsbürger-RL 2004/38 - der als ausdrückliche Abweichung vom Grundsatz der Gleichbehandlung vorsehe, dass der Aufnahmemitgliedstaat nicht verpflichtet sei, „anderen Personen als Arbeitnehmern oder Selbstständigen, Personen, denen dieser Status erhalten bleibt, und ihren Familienangehörigen" während näher bestimmter Zeiträume einen Anspruch auf Sozialhilfe zu gewähren, - sei nicht auf einen Unionsbürger anwendbar, dem wie JD ein Aufenthaltsrecht auf der Grundlage von Art. 10 der VO Nr. 492/2011 zustehe.

Im Rahmen seiner Ausführungen zu Antwortvorschlägen 3 und 4 weist Generalanwalt Pitruzzella auf die bisherige, in drei Schritten entwickelte Rechtsprechung hin, wonach 1) das Recht auf Zugang zum Unterricht mit der Anerkennung eines eigenen Aufenthaltsrechts der Kinder einhergeht, 2) den Eltern, die die elterliche Sorge für diese Kinder wahrnehmen, ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht zuzuerkennen ist und 3) sowohl das eigenständige Aufenthaltsrecht der Kinder als auch das davon abgeleitete Aufenthaltsrecht der Eltern von der Voraussetzung wirtschaftlicher Eigenständigkeit abgekoppelt wurde.

Der vorliegende Fall gebe dem EuGH Gelegenheit, einen weiteren Schritt zur Ausgestaltung der mit Art. 10 der VO Nr. 492/2011 verbundenen Rechtsstellung zu gehen. Es wäre nämlich eine Illusion, eine rechtliche Fiktion, würde das Recht auf Zugang zum Unterricht schon deshalb als wirksam angesehen, weil dem Elternteil, der die elterliche Sorge für die Kinder innehabe, ein Aufenthaltsrecht gewährt werde, ohne dass dieses Recht auch mit Sozialhilfe einhergehe. Deshalb schlägt der Generalanwalt dem EuGH vor, diesen Schritt nun zu gehen.


Verlag Dr. Otto Schmidt vom 18.05.2020 13:06
Quelle: EuGH online

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