Otto Schmidt Verlag

BGH v. 23.2.2021 - VI ZR 44/20

Medizinische Standards: Zur Verletzung rechtlichen Gehörs durch Übergehen eines erheblichen Beweisantrags

Die Frage, welche Maßnahmen der Arzt aus der berufsfachlichen Sicht seines Fachbereichs unter Berücksichtigung der in seinem Fachbereich vorausgesetzten Kenntnisse und Fähigkeiten in der jeweiligen Behandlungssituation ergreifen muss, richtet sich in erster Linie nach medizinischen Maßstäben, die der Tatrichter mit Hilfe eines Sachverständigen zu ermitteln hat. Er darf den medizinischen Standard grundsätzlich nicht ohne eine entsprechende Grundlage in einem Sachverständigengutachten oder gar entgegen den Ausführungen des Sachverständigen aus eigener Beurteilung heraus festlegen.

Der Sachverhalt:
Die Kläger nehmen die Beklagten auf Ersatz materiellen bzw. immateriellen Schadens wegen fehlerhafter ärztlicher Behandlung in Anspruch. Der Kläger wurde am 19.10.2005 von einer Minderjährigen geboren. Wegen Vernachlässigung erfolgte seine Inobhutnahme durch das Jugendamt. Anfang Februar 2006 kam der Kläger in die Pflege der Klägerin und ihres Ehemannes. Im Oktober 2010 wurde er von seinen Eltern adoptiert.

Die Pflegeeltern stellten den Kläger am 11.2.2006 in der von der Beklagten zu 1) getragenen Kinderarztpraxis vor, in der die Beklagte zu 2) als angestellte Ärztin tätig war. Ab dem 13.2.2006 erfolgte die kinderärztliche Behandlung durch die Beklagte zu 2). Sie diagnostizierte erstmals am 1.3.2006 eine "Entwicklungsstörung" des Klägers. Bei der Vorsorgeuntersuchung U 5 am 12.5.2006 diagnostizierte sie eine Entwicklungsstörung der motorischen Funktionen und des Sprechens. Diese Diagnose wiederholte sie bei der Vorsorgeuntersuchung U 6 am 10.10.2006. Ab dem 24.9.2007 zeigten sich Schlafstörungen, Ruhelosigkeit und Erregung. Am 4.6.2009 diagnostizierte die Beklagte zu 1) erstmals und dann wiederholt bis zur Adoption und auch darüber hinaus eine nicht näher bezeichnete Persönlichkeits- und Verhaltensstörung sowie erstmals am 30.6.2009 eine Störung des Sozialverhaltens. Sie behandelte den Kläger wegen ADHS. Am 21.5.2012 überwies sie den Kläger kurativ an die Institutsambulanz der Kinder- und Jugendpsychiatrie M. Trotz des beschriebenen Alkoholkonsums der leiblichen Mutter des Klägers wurde dort nicht die Verdachtsdiagnose fetales Alkoholsyndrom (FAS) in Erwägung gezogen.

Am 18.1.2013 stellten die Eltern den Kläger in der FAS-Ambulanz der Tagesklinik W. GmbH vor, wo erkannt wurde, dass der Kläger vom fetalen Alkoholsyndrom (FAS) betroffen ist. Prof. Dr. S. vom FASD-Zentrum B. diagnostizierte sodann am 11.8.2014 ein partielles fetales Alkoholsyndrom. Nach der Diagnose FAS wurde der Kläger mit drei Medikamenten behandelt, die zumindest seine Aggressivität senkten. Außerdem erhielt er eine Inklusionshilfe, einen Begleiter im privaten Umfeld sowie die langfristige Begleitung durch einen Kinder- und Jugendpsychologen. Die Klägerin verzichtete vom 11.2.2006 bis zum 10.2.2009 auf ihre berufliche Tätigkeit als Bilanzbuchhalterin. Vom 11.2. bis 30.9.2009 arbeitete sie wieder. Am 1.10.2009 gab sie ihre berufliche Vollzeittätigkeit endgültig auf. Seit November 2011 arbeitet sie auf Minijob-Basis. Die Kläger machen geltend, die Beklagte zu 2) habe sich behandlungsfehlerhaft vorschnell auf die Diagnose ADHS festgelegt und es trotz der auf eine FASD (Fetal Alcohol Spectrum Disorders) hindeutenden Symptome unterlassen, zur Abklärung gebotene Untersuchungen zu veranlassen.

LG und OLG wiesen die auf Zahlung eines Schmerzensgeldes an den Kläger i.H.v. 10.000 € und auf Ersatz eines Verdienstausfallschadens der Klägerin i.H.v. rd. 147.000 € gerichtete Klage ab. Die Revision zum BGH wurde nicht zugelassen. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin hatte vor dem BGH keinen Erfolg. Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers hob der BGH das Berufungsurteil insoweit auf, als zum Nachteil des Klägers erkannt worden ist, und verwies die Sache im Umfang der Aufhebung zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das OLG zurück.

Die Gründe:
Die Beurteilung des OLG, der Beklagten sei nicht deshalb ein Befunderhebungsfehler vorzuwerfen, weil sie die beim Kläger festgestellten Auffälligkeiten - Entwicklungsstörung der Motorik und der Sprache, Persönlichkeits- und Verhaltensstörung, Störung der exekutiven Funktionen sowie im Sozialverhalten -nicht zum Anlass genommen hat, den Kläger zeitnah in einem sozialpädiatrischen Zentrum vorzustellen, beruht auf einer Verletzung des Anspruchs des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art.103 Abs.1 GG.

Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Das Gebot des rechtlichen Gehörs soll als Prozessgrundrecht sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, welche ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben. In diesem Sinne gebietet Art. 103 Abs. 1 GG in Verbindung mit den Grundsätzen der Zivilprozessordnung die Berücksichtigung erheblicher Beweisanträge. Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots verstößt gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze findet. So verhält es sich hier. Die Nichtzulassungsbeschwerde rügt mit Erfolg, dass das OLG sich gehörswidrig über den zuletzt in der Berufungsbegründung gestellten Antrag des Klägers auf Einholung eines Sachverständigengutachtens hinweggesetzt und die Frage, ob der Beklagten zu 2) ein Behandlungsfehler unterlaufen ist, verfahrensfehlerhaft ohne die erforderliche Hinzuziehung eines Sachverständigen aus eigener, nicht ausgewiesener Sachkunde beantwortet hat.

Das OLG ist allerdings zu Recht davon ausgegangen, dass die unterlassene Vorstellung des Klägers in einem sozialpädiatrischen Zentrum im engen zeitlichen Zusammenhang mit der Feststellung der oben näher beschriebenen Auffälligkeiten nur dann als Behandlungsfehler qualifiziert werden kann, wenn sie dem im Zeitpunkt der Behandlung bestehenden medizinischen Standard zuwiderlief. Der Standard gibt Auskunft darüber, welches Verhalten von einem gewissenhaften und aufmerksamen Arzt in der konkreten Behandlungssituation aus der berufsfachlichen Sicht seines Fachbereichs zum Zeitpunkt der Behandlung vorausgesetzt und erwartet werden kann. Er repräsentiert den jeweiligen Stand der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und der ärztlichen Erfahrung, der zur Erreichung des ärztlichen Behandlungsziels erforderlich ist und sich in der Erprobung bewährt hat.

Die Frage, welche Maßnahmen der Arzt aus der berufsfachlichen Sicht seines Fachbereichs unter Berücksichtigung der in seinem Fachbereich vorausgesetzten Kenntnisse und Fähigkeiten in der jeweiligen Behandlungssituation ergreifen muss, richtet sich in erster Linie nach medizinischen Maßstäben, die der Tatrichter mit Hilfe eines Sachverständigen zu bestimmen hat. Er darf den medizinischen Standard nicht ohne eine entsprechende Grundlage in einem Sachverständigengutachten oder gar entgegen den Ausführungen des Sachverständigen aus eigener Beurteilung heraus festlegen. Etwas anderes gilt nur dann, wenn der Tatrichter ausnahmsweise selbst über das erforderliche medizinische Fachwissen verfügt und dies in seiner Entscheidung darlegt. Außerdem muss der Tatrichter, wenn er bei seiner Entscheidung eigene Sachkunde in Anspruch nehmen will, den Parteien zuvor einen entsprechenden Hinweis erteilen.

Das OLG hat auch eine eigene medizinische Bewertung des Behandlungsgeschehens vorgenommen ohne aufzuzeigen, dass es über die erforderliche medizinische Sachkunde verfügt. Es hat damit den medizinischen Standard in unzulässiger Weise - und unter gehörswidrigem Übergehen des Beweisantrags des Klägers - selbst bestimmt. Ob die Beklagte zu 2) die beim Kläger bereits in den ersten Lebensmonaten festgestellte Entwicklungsstörung der motorischen Funktionen und der Sprache und die im weiteren Verlauf vor Beendigung seines vierten Lebensjahrs am 19. Oktober 2009 diagnostizierte Persönlichkeits- und Verhaltensstörung, die Störung der exekutiven Funktionen sowie im Sozialverhalten auf eine Vernachlässigung des Klägers in seinen ersten Lebenswochen zurückführen durfte oder ob sie jedenfalls Ende des Jahres 2009 weitere Maßnahmen zur Abklärung dieser Auffälligkeiten hätte ergreifen müssen, kann ohne medizinische Sachkunde nicht beantwortet werden. Gleiches gilt für die Frage, ob die (erst) am 21.5.2012 erfolgte Überweisung des Klägers an die Institutsambulanz der Kinder- und Jugendpsychiatrie M. - wie vom OLG unter Hinweis auf die Empfehlung der S 3 - Leitlinie FASD zur Vorstellung bei einem Neuropädiater bzw. Psychiater angenommen - dem im Behandlungszeitpunkt geltenden medizinischen Standard genügte.



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 14.04.2021 16:38
Quelle: BGH online

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