Otto Schmidt Verlag

BVerfG v. 14.9.2021 - 1 BvR 1525/20

Sonderpädagogischer Förderbedarf: Kindeswohlgefährdung wegen überhöhter Erwartungen der Mutter

Das BVerfG hat eine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, mit der sich eine Mutter und ihre mittlerweile 16-jährige Tochter, bei der ein Förderbedarf im Förderschwerpunkt Lernen besteht, gegen familiengerichtliche Entscheidungen gewandt haben, durch die der Mutter u.a. das Recht zur Regelung schulischer Belange sowie der Gesundheitssorge für ihre Tochter entzogen wurden. Die Fachgerichte hatten die Entscheidung mit einer Kindeswohlgefährdung wegen permanenten Leistungsdrucks durch überhöhte Erwartungen der Mutter und damit einhergehender schulischer Überforderung begründet.

Der Sachverhalt:
Die Beschwerdeführerinnen sind Mutter und Tochter. Bei der mittlerweile 16 Jahre alten Tochter wurde erstmals während ihrer Grundschulzeit ein sonderpädagogischer Förderbedarf im Förderschwerpunkt Lernen festgestellt. Diese Feststellung wurde in späteren Testverfahren bestätigt, wobei ein IQ zwischen 63 und 74 ermittelt wurde. Gegen den Rat der Fachkräfte meldete die Mutter ihre Tochter zunächst auf einem Gymnasium an. Dort kam es jedoch nach kurzer Zeit zu erheblichen Konflikten und Übergriffen auf Mitschüler, woraufhin die Tochter von der Schule ausgeschlossen wurde. Anschließend besuchte sie eine sog. Realschule Plus, an der sie täglich drei Stunden beschult wurde. Auch hier kam es zu erheblichen Konflikten mit Lehrern und Mitschülern.

Auf Initiative des Jugendamtes wurde ein Sorgerechtsverfahren eingeleitet, in dem das AG - Familiengericht - im Januar 2020 der Mutter u.a. das Recht zur Regelung schulischer Belange ihrer Tochter entzog. Die hiergegen gerichtete Beschwerde der Mutter wies das OLG zurück. Das Familiengericht habe zu Recht angenommen, dass das körperliche und seelische Wohl der Tochter aufgrund eines Versagens ihrer Mutter nachhaltig gefährdet sei. Weniger eingriffsintensive Maßnahmen als der Teilentzug des Sorgerechts seien nicht geeignet, die Gefahr für das Kindeswohl abzuwenden. Die Mutter übe trotz stetiger gegenteiliger Ratschläge aller Fachkräfte einen so enormen Leistungsdruck auf ihre Tochter aus, dass diese permanent überfordert, traurig, verzweifelt und ohne jegliche Lebenslust sei; sie habe bereits Suizidgedanken geäußert. Mitunter komme es auch zu körperlichen Übergriffen der Mutter auf ihre Tochter. Bei schlechten Noten äußere die Tochter in der Schule Ängste vor ihrer Mutter, etwa vor Schimpfen oder auch Schlägen. An der Lage der Tochter habe sich gegenüber der Situation in einem bereits im Jahr 2018 geführten einstweiligen Anordnungsverfahrens zum Sorgerecht, nichts geändert. Die Mutter habe sich nach der langjährigen Erfahrung der beteiligten Fachkräfte nicht bereit oder in der Lage gezeigt, eigene Vorstellungen zu überdenken oder andere als die eigene Sichtweise anzuerkennen. Die angebotenen Hilfestellungen habe die Mutter allesamt abgelehnt oder abgebrochen.

Die Verfassungsbeschwerde, mit der sich Mutter und Tochter gegen die familiengerichtlichen Entscheidungen wenden, hatte keinen Erfolg. Das BVerfG hatte dabei nicht über die Bedeutung von Art. 24 des Übereinkommens der Vereinten Nationen vom 13.12.2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-Behindertenkonvention - BRK) für in Schulausbildung befindliche Menschen mit Behinderungen im innerstaatlichen Recht zu entscheiden.

Die Gründe:
Eine Verletzung des Elternrechts (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) der Mutter ist nicht erkennbar. Die Begründung der Verfassungsbeschwerde und die dazu vorgelegten Unterlagen ließen eine Verletzung von Grundrechten der Beschwerdeführerinnen nicht erkennen.

Die Würdigung des OLG, dass hier eine Kindeswohlgefährdung i.S.v. § 1666 Abs. 1 BGB vorliegt, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Die Ursachen dafür sieht das OLG im Verhalten der Mutter, die ihrer Tochter die benötigte Unterstützung nicht zu teil werden lasse. Sie setze ihre Tochter durch überhöhte Erwartungen unter einen permanenten Leistungsdruck, der eine dauernde Belastung des Kindes bewirke. Sie stelle Anforderungen an ihre Tochter, die diese permanent überforderten, und erwarte die Erbringung schulischer Leistungen, zu denen die Tochter auch mit Unterstützung nicht in der Lage sei. Trotzdem übe die Mutter abends stundenlang mit ihrer Tochter und reagiere auf schlechte Noten mit verbalen und auch körperlichen Übergriffen. Diese Belastung der Tochter finde in aggressivem Verhalten in der Schule, Traurigkeit, Verzweiflung und fehlender Lebenslust bis hin zu Suizidgedanken ihren Ausdruck. Es liegt innerhalb der den Fachgerichten in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht zustehenden Wertung, das festgestellte Verhalten der Mutter als einen außergewöhnlichen und aus erzieherischen Gesichtspunkten nicht mehr angemessenen Leistungsdruck einzuordnen. Der aus den genannten Umständen gezogene Schluss, dass durch die so entstandene Überforderung und die erhebliche emotionale Belastung das Wohl der Tochter, insbesondere ihre seelische Gesundheit, gefährdet ist, verkennt weder die Bedeutung des Elternrechts noch den Umfang seines Schutzbereichs.

Die so begründete Annahme einer Kindeswohlgefährdung i.S.v. § 1666 Abs. 1 BGB verletzt das Recht der Mutter aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG selbst dann nicht, wenn bei der Bedeutung des Elternrechts und staatlichen Eingriffen ein möglicher individueller Anspruch der Tochter auf eine inklusive Beschulung zu berücksichtigen wäre. Ob ein solcher Anspruch nach Art. 24 BRK bestehen kann, bedarf keiner Entscheidung. Jedenfalls kann aus Art. 24 BRK nicht der Schluss gezogen werden, das Familiengericht dürfe bei einer Sorgerechtsentscheidung nach § 1666 BGB schwere Belastungen des Kindes mit Behinderung ungeachtet der Umstände des Einzelfalls dann nicht berücksichtigen, wenn diese Belastungen damit verbunden sind, wie die Eltern die elterliche Sorge in Schulangelegenheiten ihres Kindes ausüben und was sie von ihrem Kind und von der Schule im Rahmen inklusiver Beschulung verlangen. Weder gebietet das Völkerrecht ein derartiges Verständnis des Familienrechts noch wäre es so mit Verfassungsrecht vereinbar. Vorliegend resultiert die Kindeswohlgefährdung gerade nicht vornehmlich aus den Beeinträchtigungen der Tochter, sondern wesentlich aus dem Verhalten der Mutter. Sie bewirkt im Ergebnis, dass notwendige Unterstützungen und Förderungen ihrer Tochter und ein erforderlicher zieldifferenter Unterricht nicht erfolgen, so dass die Tochter von der inklusiven Beschulung im Ergebnis nicht profitieren kann, weil diese unter den im Ausgangsverfahren festgestellten Umständen für sie eine dauernde Belastung darstellt.

Es kann dahinstehen, ob in dem Entzug von Teilen des Sorgerechts der Mutter mittelbar eine Benachteiligung ihrer Tochter wegen einer Behinderung (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG) liegt. Selbst wenn die teilweise Entziehung des Sorgerechts deshalb strengeren Anforderungen unterliegen sollte, könnte ein Verfassungsverstoß hier nicht festgestellt werden. Wäre für die Tochter eine Benachteiligung wegen einer Behinderung zu bejahen, wäre diese rechtliche Schlechterstellung nach der Wertung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG lediglich zulässig, wenn zwingende Gründe eine solche rechtfertigen. Die Rechtfertigung einer Benachteiligung entgegen Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG unterliegt damit einem strengen Maßstab. Sie kommt nur im Wege einer Abwägung mit kollidierendem Verfassungsrecht und auf der Grundlage einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung in Betracht. Der Beschluss des OLG hielte jedoch auch einer solchen strengen verfassungsrechtlichen Prüfung in verfahrens- und materiellrechtlicher Hinsicht stand.

Die Annahme einer Kindeswohlgefährdung durch die Fachgerichte lässt keine beachtlichen Auslegungsfehler erkennen. Die Fachgerichte haben die Ursachen der Kindeswohlgefährdung hinreichend aufgeklärt. Insbesondere waren dafür keine weitergehenden Ermittlungen zu der Frage geboten, ob die Schule oder das Land einer Verpflichtung zur Umsetzung eines Rechts auf inklusive Bildung aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG und aus Art. 24 BRK durch Schaffung erforderlicher struktureller Rahmenbedingungen hinreichend nachgekommen ist. Denn die Ursachen der Kindeswohlgefährdung liegen vor allem in dem Verhalten der Mutter. Die Tochter kann im Ergebnis von der inklusiven Beschulung nicht profitieren, weil diese für sie nach den getroffenen Feststellungen angesichts des Verhaltens ihrer Mutter mit einer dauerhaften erheblichen Belastung verbunden ist. Vorliegend waren die Fachgerichte daher lediglich gehalten, die aktuell möglichen oder in angemessener Zeit verfügbaren Angebote der Schule zu prüfen und zu klären, ob deren Inanspruchnahme zur Abwehr der Kindeswohlgefährdung möglich ist. Hierzu haben sie in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise festgestellt, dass die Mutter sämtliche Förderangebote abgelehnt und die notwendige Zusammenarbeit nicht geleistet hat, so dass eine hinreichende Förderung an der Regelschule nicht möglich ist.

Der erfolgte Entzug von Teilen des Sorgerechts würde auch strengeren materiellrechtlichen Anforderungen genügen. Er findet seine verfassungsrechtliche Grundlage in dem Anspruch eines Kindes aus Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG i.V.m. Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG auf Schutz des Staates und dessen damit korrespondierender Schutzpflicht. Als Erfüllung des Schutzanspruchs erweist sich der Sorgerechtsentzug in seinem gesamten Umfang selbst nach Maßgabe der erwogenen strengen Anforderungen als verhältnismäßig. Der Eingriff ist insbesondere auch erforderlich. Insofern kommt vor allem nicht in Betracht, allein den Entzug des Rechts zur Beantragung von Jugendhilfemaßnahmen und zur Stellung von Anträgen nach den Sozialgesetzbüchern als milderes, in gleicher Weise geeignetes Mittel anzusehen. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlangt, vor jedem Sorgerechtsentzug wegen Kindeswohlgefährdung zu prüfen, ob der Kindeswohlgefährdung nicht auf andere Weise begegnet werden kann. Im Fall des Entzugs des Rechts der Schulwahl für ein Kind erfordert dies die Prüfung, ob nicht weniger einschneidende Jugendhilfemaßnahmen, schulische Angebote oder andere Hilfen verfügbar sind, die eine Abwehr der festgestellten Kindeswohlgefährdung ermöglichen. Im Falle eines Kindes mit Behinderung führt die Berücksichtigung von Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG dazu, dass insbesondere auf Hilfen zur Integration oder Inklusion behinderter Menschen zu achten ist.

Dem trägt die Entscheidung des OLG Rechnung. Es hat eine Kindeswohlgefährdung durch die Überforderung der Tochter an der Regelschule festgestellt. Diese Überforderung wird dadurch, dass ihre Mutter die vorhandenen Hilfsangebote - insbesondere einen zieldifferenten Unterricht - ablehnt, verstärkt. Angesichts der festgestellten schwerwiegenden, vor allem aus dem Verhalten der Mutter folgenden Beeinträchtigungen des Kindeswohls ihrer Tochter hat das OLG den Entzug von Teilen des Sorgerechts ohne Verstoß gegen Verfassungsrecht als angemessen bewertet.



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 15.10.2021 10:36
Quelle: BVerfG PM Nr. 88 vom 14.10.2021

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