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Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in Kindschaftssachen - Teil 2 (Vogel, FamRB 2022, 413)

Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz hat Auswirkungen sowohl auf das Verfahrensrecht als auch auf das materielle Recht sowie auf das Vollstreckungsrecht in Kindschaftssachen. Im Anschluss an den ersten Teil des Beitrags (Vogel, FamRB 2022, 364) geht es im zweiten und letzten Beitragsteil um sieben weitere Fallkonstellationen des materiellen Rechts sowie um die Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Verfahrens- und im Vollstreckungsrecht.

II. Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im materiellen Recht
7. Drohender sexueller Missbrauch und Misshandlung der Kinder
8. Sorgerechtliche Maßnahmen bei Umgangsvereitelung durch einen Elternteil
9. Bestehende Gefahr der Herausnahme des Kindes aus einer Pflegefamilie durch einen Elternteil
10. Gerichtliche Anordnung der dauerhaften Verbleibensanordnung
11. Dauer einer familiengerichtlichen Maßnahme
12. Die Fremdunterbringung bei Verwandten an Stelle einer Heimunterbringung
13. Freiheitsentziehende Unterbringung nach § 1631b Abs. 1 BGB
III. Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Verfahrensrecht
1. Hohe Anforderungen an die umfassende Sachverhaltsaufklärung
2. Ausschöpfung aller in Betracht kommenden Ermittlungsansätze vor dem (teilweisen) Entzug des Sorgerechts
3. Einstweiliges Anordnungsverfahren
4. Verhältnis zwischen Ergänzungspflegschaft und Verfahrensbeistandschaft
IV. Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Vollstreckungsrecht
V. Fazit


II. Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im materiellen Recht

7. Drohender sexueller Missbrauch und Misshandlung der Kinder

Steht der Vorwurf des sexuellen Missbrauchs eines Kindes im Raum, entscheidet sich die Frage, ob und gegebenenfalls welche Maßnahmen z.B. in Bezug auf den Umgang des Kindes mit dem verdächtigen Elternteil zu treffen sind, nach dem Grad der Gewissheit, ob ein sexueller Missbrauch tatsächlich stattgefunden hat. Lassen sich hinreichende Anzeichen für einen Missbrauch mit ziemlicher Sicherheit nicht feststellen, scheidet eine Einschränkung des Umgangsrechts aufgrund eines verbleibenden bloßen Verdachts aus. Auch die auf einem derartigen Verdacht begründeten Vorbehalte des betreuenden Elternteils gegenüber dem Umgang erfordern keine Umgangsbeschränkung.

Anders ist es hingegen, wenn sich eine erhebliche Gefährdung des Kindes mit ziemlicher Sicherheit annehmen lässt. In diesem Fall hat das BVerfG einen anderen Prüfungsmaßstab bei der Verhältnismäßigkeit als der BGH. Für das BVerfG kommt allein die „Je-desto-Formel“ in Betracht; für es ist keine weitere Prognose für die Sicherheit des Schadenseintritts notwendig. Dieser Gesichtspunkt ist bereits durch die Ausrichtung der Kindeswohlprüfung an der „Je-desto-Formel“ berücksichtigt. Es kommt mithin nur darauf an, dass sich der entsprechende Eingriff als geeignet, erforderlich und angemessen erweist. Soweit Hammer6 die Rechtsansicht vertritt, dass „ sich tatsächlich im Ergebnis keine Unterschiede zwischen BVerfG und BGH ergeben“, weist Volke darauf hin, dass „mit der Entscheidung des BVerfG der notwendige Handlungsspielraum insbesondere für die Fälle sichergestellt ist, in denen ein Schadenseintritt nur mäßig wahrscheinlich ist, jedoch der drohende Schaden groß wäre“. In dem vom BGH entschiedenen Fall waren seiner Ansicht nach bestimmte Gebote angemessen, um dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu genügen. So schlug er zur Unterstützung der Familie die Heranziehung eines sozialpädagogischen Familienhelfers i.S.v. § 31 SGB VIII vor, der am ehesten bemerken dürfte, ob und in welchem Maße sich die familiäre Situation verschlechtert (Anordnung einer externen Kontrolle). Dieser könnte dann zeitnah dem Familiengericht von möglichen Veränderungen berichten. Das Familiengericht wäre dann in der Lage, den Sachverhalt weiter aufzuklären und ggf. angemessen zu reagieren. Das OLG Karlsruhe, dessen Entscheidung durch den BGH aufgehoben wurde, hat sich in seiner Anschlussentscheidung weitgehend dem BGH angeschlossen und im Rahmen eines Schutzkonzepts dem Jugendamt aufgegeben, dass deren Mitarbeiter die Familie beobachten und kontrollieren und ggf. dem Familiengericht bei einer Verschlechterung hiervon Mitteilung machen. Das OLG Frankfurt hielt bei einer Gefahr einer sexuellen Grenzverletzung demgegenüber die Wegweisung des Vaters aus der Wohnung nach § 1666 Abs. 3 Nr. 4 BGB und die unbefristete Umgangsbeschränkung nach § 1684 Abs. 4 Satz 2 BGB für angemessen, nicht jedoch die Anordnung einer Familienhilfe gem. § 1666 Abs. 3 Nr. 1 BGB. Gegen die Gewährleistung einer externen Kontrolle durch Jugendamtsmitarbeiter sind bereits Bedenken erhoben worden. Ob die Rechtsansicht des BGH vor dem BVerfG Bestand haben wird, ist zu bezweifeln. Denn in seiner Entscheidung vom 12.2.2021 hat das BVerfG gerade in sexuellen Missbrauchsfällen auf die Gefahr eines sexuellen Missbrauchs bei einem unüberwachten Kontakt hingewiesen. Da eine vollständige, 24 Stunden anhaltende Überwachung durch Jugendamtsmitarbeiter in der Familie rein tatsächlich nicht möglich ist, hätte eine Anordnung einer externen Kontrolle bei einer lückenhaften Überprüfung nicht ohne eine weitere gutachterliche Abwägung der Gefahr in Bezug auf die Wahrscheinlichkeit eines Übergriffs auf das Kind erfolgen dürfen. Wenn diese Gefahr bestehen sollte, dann nützt auch der zeitnahe Bericht gegenüber dem Familiengericht nichts mehr. Denn in diesem Fall wäre bereits „das Kind in den Brunnen gefallen“, d.h., es wäre bereits sexuell missbraucht worden.

Einigkeit besteht darin, dass der begleitete und kontrollierte Umgang ein milderes Mittel gegenüber dem Ausschluss des Umgangsrechts ist. Die Anordnung des begleiteten Umgangs kommt niemals bei Bestehen einer abstrakten, sondern nur bei Vorliegen einer konkreten Gefahr zum Tragen. Deshalb reichen nur vage, wenig fundierte Anhaltspunkte nicht aus; vielmehr ist ein fundierter Vortrag erforderlich.

8. Sorgerechtliche Maßnahmen bei Umgangsvereitelung durch einen Elternteil
Zur gerichtlichen Ausgestaltung des Umgangsrechts hat das BVerfG ausgeführt, dass es in erster Linie daran auszurichten ist, welche Regelung dem Wohl des Kindes in seiner konkreten Situation am besten gerecht wird. Dauer und Häufigkeit von Besuchen kann nur nach der jeweiligen Lage des Einzelfalls unter Berücksichtigung des Kindeswohls bei Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sachgerecht entschieden werden. Es gibt hierfür keine allgemeinen Erfahrungssätze, mithin keine Faustregel für das Umgangsrecht. Es kommt auf die individuellen Verhältnisse aller Beteiligten an. Deshalb verbieten sich schematische Lösungen, die etwa allein aus dem Alter des jeweiligen Kindes für Art und Umfang des Umgangsrechts hergeleitet werden.

Bei Umgangsvereitelung durch einen Elternteil ist stets zu berücksichtigen, dass sich sorgerechtliche Maßnahmen allein am Kindeswohl orientieren müssen; hingegen darf eine Sanktionierung des Fehlverhaltens des betreuenden Elternteils nicht in Betracht gezogen werden. Sollten Einschränkungen des sorgerechtlich betreuenden Elternteils notwendig werden, so ist bei der Folgenabwägung immer zu prüfen, ob sich für das Kind durch den Eingriff seine Position verbessert, d.h., „der als gefährlich definierte Zustand wird beendet oder trägt zu dessen Beendigung bei“. Es gilt folgender Grundsatz: „... ein Wechsel des Lebensmittelpunktes des Kindes zum anderen Elternteil kommt folglich nur dann in Betracht, wenn die Gefahren, die dem Kind im Haushalt des bindungsintoleranten Elternteils drohen, die Schadensrisiken überwiegen, die mit dem Wechsel des Kindes in den Haushalt des anderen Elternteils verbunden sind“.

Als sorgerechtliche Maßnahmen kommen gegen den betreuenden Elternteil bei einer Umgangsvereitelung in Betracht die Ordnungsmittel nach § 89 FamFG, ggf. die Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts nach § 1671 BGB oder notfalls der Entzug des Sorgerechts nach §§ 1666, 1666a BGB (Hierarchie der Interventionsmaßnahmen).

9. Bestehende Gefahr der Herausnahme des Kindes aus einer Pflegefamilie durch einen Elternteil
Schutzzweck der Verbleibensanordnung ist die Wahrung des Kontinuitätsinteresses von Kindern und Jugendlichen gemäß § 1697a Abs. 2 Satz 2 BGB bei den Entscheidungen nach § 1632 Abs. 4 BGB. Mit Rücksicht hierauf spielt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit...
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 25.10.2022 14:23
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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