Otto Schmidt Verlag

OLG Frankfurt a.M. v. 19.1.2023 - 6 UF 235/22

Erweiterung der Ergänzungspflegschaft nicht ohne vorherige Entscheidung zur Vertretungsmacht

Auch in vom Rechtspfleger geführten Kindschaftssachen gelten die Verfahrensvorschriften der § 7, § 158 ff. FamFG. Eine Ergänzungspflegschaft kann nach § 1809 BGB nicht ohne vorgegangene Entscheidung über die Entziehung der Vertretungsmacht nach § 1629 Abs. 2 S. 3, § 1789 Abs. 2 S. 3 und S. 4 BGB erweitert werden, wenn die Vertretungsmacht nicht kraft Gesetzes ausgeschlossen ist.

Der Sachverhalt:
Die Eltern des 2006 geborenen A. waren nicht miteinander verheiratet. Das AG - Familiengericht - hatte der bis dahin alleinsorgeberechtigten Kindesmutter am 26.7.2021 im Wege einstweiliger Anordnung das Aufenthaltsbestimmungsrecht, die Gesundheitsfürsorge, die Antragstellung für Hilfe zur Erziehung nach SGB VIII sowie alle schulischen Angelegenheiten entzogen und auf einen Amtspfleger des Jugendamtes übertragen. Das Hauptsacheverfahren ist noch vor dem AG anhängig. Später wurde die Pflegschaft mit Beschluss vom 8.3.2022 auf den Kreis übertragen.

Am 22.3.2022 regte der Amtspfleger an, die übertragene Pflegschaft um den Wirkungskreis „Vertretung/Teilnahme an Strafverfahren, welche den Pflegling betreffen“ zu erweitern. Zur Begründung führte er an, dass die leibliche Mutter ihren eigenen Sohn wegen der Verbreitung kinderpornographischer Inhalte angezeigt habe und deshalb ein Interessenkonflikt bestehe. Die Rechtspflegerin wies zunächst darauf hin, dass eine Erweiterung des Aufgabenkreises nicht ohne weitere Gründe möglich sei, da der Pflegschaftsbestellung ein Verfahren nach § 1666 BGB zugrunde gelegen habe. Es werde deshalb davon ausgegangen, dass ein gesetzlicher Vertretungsausschluss nach §§ 1629, 1795 BGB vorliege und deshalb ein Ergänzungspfleger zu bestellen sei. Die Kindesmutter wurde im Verfahren weder angehört noch beteiligt. Auch der Kindesvater, das Kind und das Jugendamt wurden nicht angehört.

Mit Beschluss vom 9.6.2022 erweiterte die Rechtspflegerin des AG die Pflegschaft um den Aufgabenkreis „Vertretung/Teilnahme an Strafverfahren, bei deren Vertretung die Kindeseltern nach §§ 181, 1629, 1795 Abs. 1 BGB von der Vertretung ausgeschlossen sind“ und verfügte die formlose Übersendung des Beschlusses an die Kindesmutter. Dagegen wandte sich die Kindesmutter mit ihrer Beschwerde. Die Rechtspflegerin berichtete daraufhin u.a. über den Gegenstand des Verfahrens und teilte mit, der bislang ausgebliebenen Begründung des Rechtsmittels nunmehr binnen zwei Wochen entgegenzusehen. Zugleich verfügte sie die förmliche Zustellung des Beschlusses vom 8.3.2022.

Mit ihrer neuerlichen Beschwerdebegründung begehrte die Kindesmutter die Aufhebung des Beschlusses vom 8.3.2022. Das AG hat der Beschwerde nicht abgeholfen. Das OLG hat den Beschluss des AG aufgehoben.

Die Gründe:
Die Entscheidung des AG, die bereits bestehende Ergänzungspflegschaft um den Bereich „Vertretung und Teilnahme an Strafverfahren“ zu erweitern, litt unter schwerwiegenden materiellen und formellen Mängeln.

In Bezug auf die Anwendung des materiellen Rechts hat das AG schon verkannt, dass im vorliegenden Fall das sorgerechtliche Vertretungsrecht der Kindesmutter nicht kraft Gesetzes ausgeschlossen ist. Die angeführten Vorschriften von §§ 1795 BGB (i.d.F. bis zum 31.12.2022), 181 BGB sind schon auf mögliche Interessenskollisionen zwischen Eltern und Kind in Strafverfahren nicht anwendbar. Auch lag hier kein Fall des gesetzlichen Vertretungsausschlusses von § 52 Abs. 2 S. 2 StPO vor. Insoweit hätte das AG vor der Entscheidung über die Erweiterung der Pflegschaft zunächst eine sorgerechtliche Entscheidung nach §§ 1629 Abs. 2 S. 3, 1796 BGB (i.d.F. bis zum 31.12.2022) treffen müssen, was aber nicht geschehen ist. Da damit die Kindesmutter weiterhin allein in dem hier betreffenden Sorgerechtsbereich vertretungsberechtigt ist, ging die Erweiterung der Pflegschaft nach § 1809 BGB n.F. ins Leere und der Beschluss war aufzuheben.

Auch in Bezug auf die verfahrensrechtlichen Vorgaben des FamFG, die auch von dem in Kindschaftssachen tätigen Rechtspfleger zu beachten sind, litt die Entscheidung und die Verfahrensführung durch das AG unter eklatanten Mängeln. So hätte die Kindesmutter als Inhaberin der hier betroffenen Bereiche des Sorgerechts zwingend nach § 7 Abs.2 Nr. 1 FamFG beteiligt und nach § 160 FamFG angehört werden müssen. Eine Kindesanhörung (§ 159 FamFG) wäre dagegen (nur) für den Fall eines gesetzlichen Vertretungsausschlusses entbehrlich gewesen. Der Beschluss des AG hätte sodann der Kindesmutter nicht formlos übermittelt werden dürfen, sondern bedurfte nach § 41 Abs. 1 S. 2 FamFG der förmlichen Zustellung.

Für das weitere Verfahren weist der Senat darauf hin, dass das AG nunmehr zunächst ein Verfahren nach § 1629 Abs. 2 S. 3 iVm § 1789 Abs. 2 S. 3 und 4 BGB zu führen haben wird. Da das Vorliegen einer Interessenskollision wegen der Schwere der hier im Raum stehenden strafrechtlichen Vorwürfe hier keineswegs evident ist, wird Anlass bestehen, jedenfalls die Kindesmutter und das Kind nach §§ 159, 160 FamFG persönlich anzuhören und auch das zuständige Jugendamt nach § 162 Abs. 1 FamFG anzuhören.

Mehr zum Thema:

Aufsatz
Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in Kindschaftssachen – Teil 2
Harald Vogel, FamRB 2022, 413

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Verlag Dr. Otto Schmidt vom 07.02.2023 15:17
Quelle: LaReDa Hessen

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