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Wahrheiten im Konflikt (Spangenberg/Spangenberg, FamRB 2023, 169)

Im praktischen Leben spielen objektive Wahrheiten nur noch eine begrenzte Rolle. Wichtiger ist, was man für wahr hält, wovon man überzeugt ist (Believes). Selbst bei ein und demselben Sachverhalt entstehen durch unterschiedliche Blickwinkel verschiedene Wahrheiten. Der Wahrheitsbegriff hat sich subjektiviert. Das hat Auswirkungen auf das Konfliktverständnis und das Konfliktverhalten von Parteien.

I. Die philosophische Grundlage
II. Der praktische Nutzen
III. Die Mediation von Eheproblemen
IV. Die Verrechnung mit dem Kindesunterhalt
V. Die Beharrlichkeit
VI. Ergebnisse


I. Die philosophische Grundlage

Lange befassten sich die Philosophen mit praxisirrelevanten Problemen des objektiven Wissens, etwa Descartes, der zunächst an allem zweifelte. Nur eines stand zweifelsfrei fest, nämlich, dass er zweifelte, was ihm die erlösende Erkenntnis vermittelte: Ich zweifle, also bin ich (cogito ergo sum).

Vergleichbare Zweifel an der Realität beschäftigten den chinesischen Weisen Zhuang Zhou (4. Jahrhundert vor Christus), der eines nachts träumte, er wäre ein Schmetterling, der mit sorgloser Leichtigkeit umherflog. Der Traum sei so real gewesen, dass er, als er erwachte, sich gefragt habe, ob er es sei, der geträumt habe, er sei ein Schmetterling, oder ob ein Schmetterling träumte, er sei Zhuang Zhou.

Einen grundlegend neuen praxisrelevanten Denkansatz zu den Fragen des Wissens fanden die Pragmatisten (von griechisch Pragma „Handlung“, „Sache“), allen voran Charles Sanders Peirce (1839 bis 1914). Er ist der wohl bedeutendste und zugleich originellste Kopf dieser in den USA beheimateten Philosophen-Generation, deren Gemeinsamkeit darin bestand, dass die Lösung eines Problems nach Möglichkeit in eine Handlungsanweisung mündete. Mit 16 Jahren begann Peirce die Kritik der reinen Vernunft zu lesen. Er benötigte für das Studium des Werks, mit dem er sich täglich mehrere Stunden auseinandersetzte, drei Jahre, nach denen er das Buch fast auswendig gekonnt habe.

Während Kant sich fragte, was wir wissen können, ging es Peirce darum zu klären, was wir real wissen. Wissen sei etwas Vorläufiges. Die Erkenntnisse schritten jedoch fort, bis letztlich die Wahrheit und unsere Vorstellungen von ihr deckungsgleich seien. Bis dahin seien unsere Erkenntnisse mit Fehlern behaftet (Fallibilismus). Wir hätten also kein sicheres Wissen. Vielmehr bildeten wir auf Grund unserer Wahrnehmungen Überzeugungen, dass etwas wahr sei. Die Überzeugungen bestimmten unser Verhalten, bis auf Grund neuer Erkenntnisse Zweifel aufkommen. Die Zweifel erforderten eine Neuorientierung, die mit einer neuen festen Überzeugung erfolgreich abschließe (doubt-belief-Schema). Überzeugungen könnten sowohl ein Für-Wahr-Halten als auch ein Für-Richtig-Halten betreffen.

Selbst bei einem eindeutigen Sachverhalt könne zudem das, was verschiedene Menschen für wahr halten, differieren. Jeder Beteiligte habe eine eigene Perspektive (intersubjektive Unterschiede).

II. Der praktische Nutzen
Suchen wir getreu dem Grundgedanken des Pragmatismus, wonach das Denken eine Orientierungshilfe für das praktische Leben ist, nach einer Nutzanwendung vorstehender Überlegungen für unsere Aufgabe, Konflikte zu lösen, die den Gegenstand von Gerichtsverfahren und Mediation bilden. Dabei wird es zum ersten um die Fehlerhaftigkeit unseres Wissens gehen, zum zweiten um unterschiedliche Perspektiven auf einen Sachverhalt und zum dritten um das, was Menschen für wahr halten, ihre Überzeugungen (Believes).

Ehe wir Konfliktfälle erörtern, zunächst Alltagsbeispiele zur Verdeutlichung der...
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 11.04.2023 11:47
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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