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Zuständigkeitstransfer nach Art. 12 und Art. 13 Brüssel IIb-Verordnung (Dimmler, FamRB 2023, 388)

Mit der Geltung der neuen Brüssel IIb-VO wurde auch die Vorschrift des Art. 15 Brüssel IIa-VO (Verweisung an ein Gericht, das den Fall besser beurteilen kann) reformiert. In Art. 12 und Art. 13 Brüssel IIb-VO finden sich nunmehr zwei Regelungen für einen nur in Ausnahmefällen möglichen Zuständigkeitstransfer. Der Verfasser zeigt die Voraussetzungen für einen derartigen Zuständigkeitstransfer auf, wie er durchzuführen ist und wann er sich empfiehlt.

A. Einleitung
B. Ausgangssachverhalt
C. Die Voraussetzungen für einen Zuständigkeitstransfer

I. Zuständigkeitstransfer nach Art. 12 Brüssel IIb-VO
1. Übernahmeersuchen
2. Besondere Bindung des Kindes
3. Kindeswohl
II. Zuständigkeitstransfer nach Art. 13 Brüssel IIb-VO
III. Rechtsmittel und Wirksamkeit
D. Fazit


A. Einleitung

Seit dem 1.8.2022 hat die neue Verordnung (EU) 2019/1111 des Rates vom 25.6.2019 über die Zuständigkeit, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und über internationale Kindesentführungen (im Folgenden Brüssel IIb-VO) die bis dahin geltende Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27.11.2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (im Folgenden Brüssel IIa-VO) abgelöst. Für alle ab dem 1.8.2022 eingeleiteten Verfahren ist die neue Verordnung anzuwenden.

Mit der Geltung der neuen Verordnung wurde auch die Vorschrift des Art. 15 Brüssel IIa-VO (Verweisung an ein Gericht, das den Fall besser beurteilen kann) reformiert. In Art. 12 und Art. 13 Brüssel IIb-VO finden sich nunmehr in Anlehnung an Art. 8 und Art. 9 KSÜ zwei Regelungen für einen nur in Ausnahmefällen möglichen Zuständigkeitstransfer. Der Begriff der internationalen Verweisung ist allerdings in diesen Vorschriften nicht mehr enthalten. Die Initiative zur Übertragung der Zuständigkeit kann sowohl von dem abgabebereiten zuständigen (Art. 12 Brüssel IIb-VO) als auch von dem übernahmewilligen, an sich unzuständigen (Art. 13 Brüssel IIb-VO) Gericht ausgehen.

B. Ausgangssachverhalt
Die für die Praxis bedeutsamen Vorschriften sollen anhand eines Beispielsfalls näher erläutert werden.

Beispiel
Luigi, italienischer Staatsangehöriger, Sabrina, deutsche Staatsangehörige leben in Stuttgart. Aus ihrer nichtehelichen Beziehung ist das im Jahr 2020 geborene Kind Paul hervorgegangen, das die deutsche und italienische Staatsangehörigkeit besitzt. Eine gemeinsame Sorgerechtserklärung existiert. Am 1.8.2022 regt das Jugendamt beim Familiengericht Stuttgart die Einleitung eines Verfahrens wegen einer Gefährdung des Kindeswohls an. Mit Beschluss des Familiengerichts Stuttgart vom 1.9.2022 wurden beiden Eltern Teile der elterlichen Sorge, insbesondere das Aufenthaltsbestimmungsrecht, entzogen und das Jugendamt Stuttgart als Ergänzungspfleger bestellt. Das Familiengericht Stuttgart leitete von Amts wegen das Hauptsacheverfahren ein. Nach dem Beschluss vom 1.9.2022 trennen sich Luigi und Sabrina. Im Einverständnis von Sabrina nimmt Luigi Paul am 15.9.2022 nach Padua in Italien mit. Die deutschen Behörden informieren die italienischen Behörden über die nicht rechtmäßige Verbringung Pauls nach Italien. Auf Veranlassung der italienischen Behörden verbringt Luigi Paul in ein städtisches Kinderheim in Padua. Das deutsche Jugendamt unternimmt allerdings keine weiteren Schritte, um Paul nach Stuttgart zurückzubringen, weshalb Paul in Italien verbleibt. Paul hat sich inzwischen vollständig in Italien integriert. Der deutschen Sprache ist er kaum noch mächtig. Das Familiengericht Stuttgart, das mehrfach vergeblich versucht hat, Paul in Italien anzuhören, beendet das Verfahren am 4.3.2025 aufgrund internationaler Unzuständigkeit. Das Jugendamt Stuttgart reicht am 13.4.2025 Beschwerde zum OLG Stuttgart ein. Das Familiengericht Stuttgart sei weiterhin international zuständig. Es sei allerdings nicht beabsichtigt, Paul nach Deutschland zurückzuholen. Das OLG Stuttgart erwägt, ob es bei dem italienischen Gericht eine Anfrage stellen soll, wonach sich dieses Gericht für zuständig erklärt.

C. Die Voraussetzungen für einen Zuständigkeitstransfer
Die Regelungen in Art. 12 und Art. 13 Brüssel IIb-VO entspringen dem Gedanken des forum non conveniens, also der angelsächsischen Lehre, dass bei Vorliegen eines nicht sachdienlichen Gerichtsstands eine Abgabe zulässig ist. Es handelt sich um besondere Zuständigkeitsvorschriften, die restriktiv auszulegen sind.

I. Zuständigkeitstransfer nach Art. 12 Brüssel IIb-VO
Sofern ein für die Entscheidung in der Hauptsache zuständiges Gericht eines Mitgliedstaats der Auffassung ist, dass ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats, zu dem das Kind eine besondere Bindung hat, das Kindeswohl in dem konkreten Fall besser beurteilen kann, so kann es darauf hinwirken, dass ein Beteiligter ein Verfahren in diesem Mitgliedstaat einleitet, oder darauf hinwirken, dass sich dieser Mitgliedstaat für zuständig erklärt. Bei der Übertragung der Zuständigkeit handelt es sich um ein vom abgabebereiten Gericht auszuübendes Ermessen („kann“), weshalb auch keine Pflicht besteht, ein solches Verfahren zu initiieren.

1. Übernahmeersuchen
Die Initiative zur Übertragung der Zuständigkeit kann von dem Gericht selbst oder aber auf Antrag eines...
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 12.09.2023 09:26
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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