Otto Schmidt Verlag

EGMR 21.12.2010, Beschwerde-Nr. 20578/07

Verwehrung des Umgangsrechtes gegenüber leiblichem Vater kann Kindeswohlinteresse vernachlässigen

Die grundsätzliche Weigerung der deutschen Gerichte, einem Vater den Umgang mit seinen leiblichen Kindern zu gewähren, mit denen er nie zusammengelebt hat, stellt eine Verletzung von Art. 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) der Europäischen Menschenrechtskonvention dar. Auch der Wunsch des biologischen Vaters, eine familiäre Beziehung aufzubauen, fällt in den Geltungsberich von Art. 8, sofern die Tatsache, dass noch kein Familienleben besteht, ihm nicht zuzuschreiben ist.

Der Sachverhalt:
Der Beschwerdeführer ist nigerianischer Staatsbürger. Er war 2003 nach Deutschland eingereist und zog 2008 nach Spanien. Sein Antrag auf Asyl in Deutschland wurde im Februar 2006 rechtskräftig abgelehnt. Etwa zwei Jahre lang hatte er eine Beziehung mit einer deutschen Frau (Frau B.), die mit ihrem Ehemann drei Kinder hat. Im Dezember 2005, vier Monate nachdem sie sich vom Beschwerdeführer getrennt hatte, brachte sie  Zwillinge zur Welt, deren biologischer Vater er ist. Seitdem zieht Frau B. die Kinder gemeinsam mit ihrem Ehemann auf, der rechtlich deren Vater ist. Das Ehepaar lehnte die Bitten des Beschwerdeführers, ihm Umgang mit den Zwillingen zu gewähren, wiederholt ab.

Im September 2006 räumte das AG dem Beschwerdeführer einmal monatlich betreuten Umgang mit den Zwillingen für eine Stunde ein. Das Gericht kam zu dem Schluss, dass er nach § 1685 Abs. 2 BGB als enge Bezugsperson Recht auf Umgang mit den Kindern habe. Es war der Ansicht, dass diese Umgangsregelung für die anderen Kinder des Ehepaars nicht von Nachteil sei, da ein offener Umgang mit den Tasachen am ehesten den Interessen aller Beteiligten dienen würde.

Im Dezember 2006 gab das OLG der Beschwerde des Ehepaars statt und lehnte ein Umgangsrecht ab. Es war der Auffassung, dass der Beschwerdeführer kein umgangsberechtigter Elternteil i.S.v. § 1684 BGB sei, da sich diese Regelung auf die Eltern im Rechtssinne und nicht auf den rein biologischen Vater beziehe. Das GG schütze den Umgang des biologischen Vaters mit seinem Kind nur insoweit, als eine sozial-familiäre Beziehung bereits bestehe; es schütze nicht seinen Wunsch, eine Beziehung zum Kind aufzubauen, wobei der Grund, warum bisher keine solche Beziehung bestehe, unerheblich sei.

Das BVerfG nahm die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung an. Der EGMR stellte daraufhin eine Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention fest. Das Urteil ist allerdings noch nicht rechtskräftig.

Die Gründe:
Die Weigerung der deutschen Gerichte, dem Beschwerdeführer Umgang mit seinen leiblichen Kindern zu gewähren, mit denen er nie zusammengelebt hat, stellt eine Verletzung von Art. 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) der Europäischen Menschenrechtskonvention dar.

Zwar war die Beziehung des Beschwerdeführers zu den Kindern nicht beständig genug um als bestehendes "Familienleben" zu gelten. Allerdings fällt auch der Wunsch des biologischen Vaters, eine familiäre Beziehung aufzubauen, in den Geltungsberich von Art. 8, sofern die Tatsache, dass noch kein Familienleben besteht, nicht dem Beschwerdeführer zuzuschreiben ist. Dies war beim Beschwerdeführer der Fall. Dieser hatte nur deswegen keinen Kontakt zu den Zwillingen, weil deren Mutter und rechtlicher Vater seine entsprechenden Bitten abgelehnt hatten. Der Beschwerdeführer hatte ein ernsthaftes Interesse an den Kindern gezeigt, indem er, sowohl vor als auch nach deren Geburt, den Wunsch nach Kontakt mit ihnen geäußert und zügig ein Umgangsverfahren eingeleitet hatte.

Auch wenn der Beschwerdeführer nie mit Frau B. zusammengelebt hatte, waren die Kinder aus einer nicht bloß zufälligen, sondern zwei Jahre dauernden Beziehung hervorgegangen. Infolgedessen betraf die Beziehung einen wichtigen Teil seiner Identität und folglich sein "Privatleben" i.S.v. Art. 8. Dieser Eingriff in das Privatleben des Beschwerdeführers war nach deutschem Recht vorgesehen. Die maßgeblichen Bestimmungen betrafen also auch Fälle, in denen die Tatsache, dass eine solche Beziehung noch nicht bestand, dem biologischen Vater nicht zuzuschreiben war.

Die Entscheidung der deutschen Gerichte zielte zwar darauf ab, dem Willen des Gesetzgebers zu entsprechen, bestehenden Familienbindungen Vorrang gegenüber der Beziehung eines biologischen Vaters zu seinem Kind einzuräumen. Diese bestehenden Bindungen waren auch gleichermaßen schutzbedürftig. Allerdings wäre eine gerechte Abwägung zwischen den konkurrierenden Rechten nach Art. 8 notwendig gewesen und nicht nur denjenigen zweier Elternteile und eines Kindes. Eine solche Abwägung hatten die deutschen Gerichte letztinstanzlich jedoch nicht vorgenommen. Insbesondere hatten sie es unterlassen, die Frage auch nur zu prüfen, ob der Kontakt zwischen den Zwillingen und dem Beschwerdeführer unter den besonderen Umständen des Falls im Interesse der Kinder läge.

Linkhinweis:

Für die auf den Webseiten des EGMR veröffentlichte Pressemitteilung klicken Sie bitte hier (pdf-Dokument).

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 22.12.2010 10:41
Quelle: EGMR PM vom 21.12.2010

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