Otto Schmidt Verlag

EGMR 15.9.2011, Beschwerde-Nr. 17080/07

Deutsche Gerichte müssen bei Entscheidung über Umgangsrecht des mutmaßlichen Vaters Kindeswohlinteresse berücksichtigen

Es ist die Aufgabe der nationalen Gerichte festzustellen, ob Kontakte zwischen einem biologischen Vater und seinem Kind, das bei seinem rechtlichen Vater lebt, in Interesse des Kindes liegen oder nicht. In Anbetracht der großen Vielfalt möglicherweise betroffener Familienkonstellationen erfordert die gerechte Abwägung der Rechte aller Beteiligten eine Untersuchung der besonderen Umstände des Falls.

Der Sachverhalt:
Der Beschwerdeführer hatte zwischen Mai 2002 und September 2003 eine Beziehung mit der verheirateten Frau H. Er behauptet, der leibliche Vater ihres 2004 geborenen Sohnes F zu sein, dessen rechtlicher Vater der Ehemann der Frau ist. Während der Schwangerschaft hatte der Beschwerdeführer Frau H zu mindestens zwei ärztlichen Untersuchungen begleitet und beim Jugendamt die Vaterschaft des ungeborenen Kindes anerkannt. Die Eheleute H leben inzwischen mit F sowie einer älteren Tochter und einem weiteren, 2007 geborenen, Kind im Vereinigten Königreich. Sie vertreten die Auffassung, dass der Beschwerdeführer, ebenso aber Herr H, der leibliche Vater von F sein könnte, und ziehen es im Interesse des familiären Zusammenlebens vor, die Vaterschaft nicht feststellen zu lassen.

Nach der Geburt stellte der Beschwerdeführer beim AG - Familiengericht - einen Antrag auf Umgang zweimal im Monat und auf regelmäßige Auskunft über die persönlichen Verhältnisse des Jungen. Das AG wies den Antrag ab. Selbst unter der Annahme, er sei der biologische Vater, gehöre der Beschwerdeführer zu keiner der Personengruppen, die nach dem BGB umgangsberechtigt sind: er sei nicht der rechtliche Vater des Kindes; seine Vaterschaftsanerkennung sei nicht rechtskräftig, da Herrn H’s Vaterschaft fortbestehe; er habe nicht das Recht, Herrn H’s Vaterschaft anzufechten, da zwischen letzterem und dem Kind eine sozial-familiäre Bindung bestehe; schließlich sei er keine enge Bezugsperson des Kindes, da er nie mit ihm zusammengelebt habe. Das OLG wies die hiergegen gerichtete Berufung des Beschwerdeführers zurück.

Das BVerfG nahm die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers nicht zur Entscheidung an (1 BvR 1337/06). Die Beschwerde sei unzulässig, soweit sie sich gegen die Nichtfeststellung seiner Vaterschaft durch die Familiengerichte richtete, da er sein Begehren auf Kenntnis der Abstammung zuvor in einer gesonderten Anfechtungsklage hätte geltend machen müssen. Soweit seine Beschwerde sich gegen die Zurückweisung von Umgangs- und Auskunftsansprüchen richte, sei sie unbegründet, da das GG die Beziehung des leiblichen, aber nicht rechtlichen Vaters zu seinem Kind nur schütze, wenn zwischen ihm und dem Kind eine sozial-familiäre Bindung bestehe, die darauf beruhe, dass er zumindest eine Zeit lang tatsächlich Verantwortung für das Kind getragen habe.

Mit seiner Beschwerde zum EGMR rügt der Beschwerdeführer unter Berufung insbes. auf Art. 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) die Weigerung der deutschen Gerichte, ihm Umgang mit seinem mutmaßlichen Sohn und Recht auf Auskunft zu gewähren. Zudem hätten die Gerichte den maßgeblichen Sachverhalt im Hinblick auf die Beziehung zu seinem Sohn nicht ausreichend aufgeklärt, insbes. keine Klärung der Vaterschaft angeordnet und nicht geprüft, ob sein Umgangsrecht im Interesse des Kindeswohls liege. Unter Berufung auf Art. 8 i.V.m. Art. 14 (Diskriminierungsverbot) rügt er außerdem, dass er durch die Entscheidungen der deutschen Gerichte diskriminiert worden sei. Der EGMR gab der Beschwerde statt.

Die Gründe:
Die Entscheidungen der deutschen Gerichte, dem Beschwerdeführer Umgang mit seinem mutmaßlichen Sohn F und Auskunft über dessen persönliche Verhältnisse zu verwehren, stellen einen Eingriff in seine Rechte aus Art. 8 dar.

Da seine biologische Vaterschaft nicht nachgewiesen wurde und nie eine enge persönliche Bindung zwischen ihm und dem Kind bestand, liegt zwar kein bestehendes "Familienleben" vor. Dieser Umstand war dem Beschwerdeführer aber nicht anzulasten. Der Beschwerdeführer hatte sein Interesse an F hinlänglich deutlich gemacht, indem er das Kind gemeinsam mit Frau H plante, sie zu ärztlichen Untersuchungen begleitete und die Vaterschaft noch vor der Geburt anerkannte. Es war folglich nicht auszuschließen, dass die Absicht des Beschwerdeführers, eine Beziehung zu dem Kind aufzubauen, in den Geltungsbereich des "Familienlebens" gem. Art. 8 fiel. In jedem Fall betraf sie aber in einen wichtigen Teil seiner Identität und folglich sein "Privatleben"“ i.S.v. Art. 8.

Die Entscheidungen der deutschen Gerichte stehen zwar mit den maßgeblichen Bestimmungen des BGB in Einklang. Die Gerichte haben den Umgang des Beschwerdeführers mit seinem mutmaßlichen Sohn und Auskunft über dessen persönliche Verhältnisse aber verwehrt, ohne zu untersuchen, ob ein solches Umgangs- und Auskunftsrecht unter den besonderen Umständen des Falls im Kindeswohlinteresse läge oder ob die Interessen des Beschwerdeführers als denjenigen der rechtlichen Eltern übergeordnet angesehen werden müssten. Zudem waren die Gründe, warum der (mutmaßliche) biologische Vater keine Beziehung mit dem Kind aufgebaut hatte, für die Schlussfolgerungen der deutschen Gerichte unerheblich. Dem Umstand, dass der Beschwerdeführer aus rechtlichen und praktischen Gründen nicht in der Lage war, die Beziehung zum Kind zu beeinflussen, wurde demnach keinerlei Bedeutung beigemessen.

Es ist aber Aufgabe der nationalen Gerichte festzustellen, ob Kontakte zwischen einem biologischen Vater und seinem Kind in dessen Interesse liegen oder nicht. Allerdings ist der EGMR nicht davon überzeugt, dass das Interesse von Kindern, die bei ihrem rechtlichen Vater leben, aber einen anderen biologischen Vater haben, tatsächlich mit Hilfe einer allgemeinen rechtlichen Vermutung ermittelt werden kann. In Anbetracht der großen Vielfalt möglicherweise betroffener Familienkonstellationen erfordert die gerechte Abwägung der Rechte aller Beteiligten eine Untersuchung der besonderen Umstände des Falls. Im Streitfall haben die deutschen Gerichte keine solche Untersuchung vorgenommen. Folglich lag eine Verletzung von Art. 8 vor.

Im Hinblick auf die unter Art. 8 war es nicht notwendig, darüber zu befinden, ob die Entscheidungen der deutschen Gerichte den Beschwerdeführer unter Verstoß gegen Art. 8 i.V.m. Art. 14 diskriminiert hatten. Gem. Art. 41 (gerechte Entschädigung) hat Deutschland dem Beschwerdeführer 5.000 € für den erlittenen immateriellen Schaden und 10.000 € für die entstandenen Kosten zu zahlen.

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 19.09.2011 15:19
Quelle: EGMR PM Nr. 144 vom 15.9.2011

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