Otto Schmidt Verlag

BGH 19.3.2014, XII ZB 511/13

§ 580 Nr. 8 ZPO i.V.m. § 48 Abs. 2 FamFG auf vor dem 31.12.2006 abgeschlossene Umgangsrechtsverfahren nicht anwendbar

Auf ein Umgangsrechtsverfahren, das vor dem 31.12.2006 formell rechtskräftig abgeschlossen worden ist, ist § 580 Nr. 8 ZPO i.V.m. § 48 Abs. 2 FamFG nicht anzuwenden (§ 35 EGZPO). Demzufolge vermag eine später ergangene Entscheidung des EGMR die Wiederaufnahme eines solchen Verfahrens nicht zu begründen.

Der Sachverhalt:
Der Antragsteller begehrt Umgang mit dem im Jahr 2004 geborenen Sohn der Antragsgegner. Der Antragsteller und die verheiratete Antragsgegnerin unterhielten von Mai 2002 bis Oktober 2003 eine außereheliche Beziehung. Im Juni 2003 wurde die Antragsgegnerin schwanger; im Dezember 2003 zog sie nach England zu ihrem Ehemann. Im März 2004 wurde ihr Sohn Francis in England geboren.

Der Antragsteller machte mit der Behauptung, er sei der biologische Vater des Kindes, im August 2004 in Deutschland ein Umgangsrechtsverfahren anhängig. Nachdem die Beteiligten keine Einwände gegen die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte erhoben hatten, wies das AG u.a. den Antrag auf Regelung des Umgangs mit dem die deutsche Staatsangehörigkeit innehabenden Kind zurück. Die Beschwerde des Antragstellers wies das OLG mit Beschluss vom 9.2.2006 zurück und verwies dabei auf die damalige Gesetzeslage (§ 1685 Abs. 2 BGB).

Das BVerfG nahm die hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde mit Beschluss vom 20.9.2006 nicht zur Entscheidung an. Auf die Individualbeschwerde des Antragstellers stellte der EGMR mit Urteil vom 15.9.2011 fest, dass Art. 8 EMRK verletzt sei. Er verurteilte Deutschland zur Zahlung von 5.000 € für immateriellen Schaden zzgl. 10.000 € für Kosten und Auslagen an den Antragsteller. Das OLG gab dem hierauf vom Antragsteller gestellten Restitutionsantrag mit einem Zwischenbeschluss statt, hob seinen Beschluss vom 9.2.2006 auf und nahm das Verfahren wieder auf.

Auf die Rechtsbeschwerde der Antragsgegner hob der BGH den Beschluss des OLG auf und wies den Antrag auf Wiederaufnahme des Umgangsrechtsverfahrens zurück.

Die Gründe:
Nach § 580 Nr. 8 ZPO in der seit dem 31.12.2006 geltenden Fassung findet die Restitutionsklage statt, wenn der EGMR eine Verletzung der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten oder ihrer Protokolle festgestellt hat und das Urteil auf dieser Verletzung beruht. Nach § 35 EGZPO ist § 580 Nr. 8 ZPO auf Verfahren, die vor dem 31.12.2006 rechtskräftig abgeschlossen worden sind, nicht anzuwenden. Gem. § 48 Abs. 2 FamFG gilt § 580 Nr. 8 ZPO i.V.m. § 35 EGZPO ebenso für Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit, mithin auch für Umgangsrechtsverfahren. Auch wenn Umgangsrechtsentscheidungen wegen der jederzeitigen Abänderbarkeit nicht in materielle Rechtskraft erwachsen, sind sie gleichwohl der formellen Rechtskraft fähig.

Die in § 35 EGZPO enthaltene Stichtagsregelung stellt nach ihrem Wortlaut auf den Zeitpunkt ab, zu dem das Verfahren "rechtskräftig" abgeschlossen ist. Es ist davon auszugehen, dass der Begriff der "Rechtskraft" im EGZPO einheitlich gebraucht wird, weshalb § 19 EGZPO gilt. "Ordentliche Rechtsmittel" im Sinne dieser Norm stellen weder die Verfassungsbeschwerde noch die Individualbeschwerde im Sinne des Art. 34 EMRK dar. Durch diese besonderen Rechtsbehelfe wird die Rechtskraft der angegriffenen Entscheidung nicht gehemmt, der rechtskräftige Abschluss des Verfahrens also nicht verzögert. Die Rechtskraft der angefochtenen Entscheidung ist dort vielmehr grundsätzlich Zulässigkeitsvoraussetzung. Die Individualbeschwerde vor dem EGMR richtet sich zudem nicht gegen die im Zivilprozess obsiegende Partei, sondern gegen die Bundesrepublik Deutschland.

Mit dem Verweis auf § 578 ZPO in der Gesetzesbegründung hat der Gesetzgeber erkennbar den Willen zum Ausdruck gebracht, mit der Stichtagsregelung an die Rechtskraft des Ausgangsrechtsstreits und nicht an die Beendigung des Beschwerdeverfahrens vor dem EGMR anzuknüpfen. Diesem Auslegungsergebnis steht für Kindschaftssachen Sinn und Zweck der Norm nicht entgegen; einer teleologischen Reduktion des § 35 EGZPO bedarf es nicht. Weder die Europäische Menschenrechtskonvention und die hierzu ergangene Rechtsprechung des EGMR noch die Besonderheiten des vorliegenden Umgangsrechtsverfahrens als ein "Kindschaftsverfahren mit Dauerwirkung" gebieten es, den Restitutionsgrund des § 580 Nr. 8 ZPO auch auf Verfahren anzuwenden, die im Zeitpunkt seiner Einführung bereits formell rechtskräftig abgeschlossen waren.

In Umgangsrechts- ebenso wie in Sorgerechtsverfahren ist für den Einwand der rechtskräftig entschiedenen Sache kein Raum. Der hieraus vom OLG gezogene Schluss, wonach der in einer Kindschaftssache obsiegende Beteiligte wegen der möglichen Abänderbarkeit der Entscheidung mangels eines entsprechenden Vertrauens in die materielle Rechtskraft nicht schutzbedürftig sei, wohingegen der Antragsteller wegen des mittlerweile eingetretenen Verlustes der internationalen Zuständigkeit besonders schutzbedürftig sei, geht fehl. Zwar vermag der Antragsteller vor den deutschen Gerichten auf Grund der besonderen Umstände des vorliegenden Einzelfalls keine Änderung der Ausgangsentscheidung zu erlangen. Der Grund hierfür liegt indes nicht im materiellen Recht, sondern allein im Verfahrensrecht. Für Entscheidungen, die die elterliche Verantwortung betreffen, wozu auch das Umgangsrecht gehört, sind die Gerichte des Mitgliedstaates zuständig, in dem das Kind zum Zeitpunkt der Antragstellung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, hier also die Gerichte Großbritanniens.

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Verlag Dr. Otto Schmidt vom 24.04.2014 11:42
Quelle: BGH online

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