Otto Schmidt Verlag

BFH v. 27.11.2019 - III R 44/17

Kindergeld für behinderte Kinder bei Feststellung eines Gendefekts nach Vollendung des 27. Lebensjahres?

Der Behinderungsbegriff des § 2 Abs. 1 SGB IX i.d.F. bis 31.12.2017 setzt eine für das Lebensalter untypische gesundheitliche Situation voraus, die mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate andauert und kausal zu einer Teilhabebeeinträchtigung führt. Alle drei Tatbestandsmerkmale des Behinderungsbegriffes müssen vor Vollendung der in § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 Halbsatz 2 EStG geregelten Altersgrenze eingetreten sein und zusätzlich auch während des Zeitraums bestehen, für den der Kindergeldanspruch geltend gemacht wird. Eine drohende Behinderung erfüllt nicht die Voraussetzungen des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG.

Der Sachverhalt:
Der Kläger ist der Vater einer im August 1968 geborenen Tochter, die an einer Muskelerkrankung in Form der Myotonen Dystrophie Curschmann Steinert leidet. Trotz erster Symptome im Alter von rd. 15 Jahren, wurde die Erkrankung zunächst nicht erkannt. Die Diagnose erfolgte erst 1998.

In der Folgezeit verstärkte sich die Muskelschwäche und es wurde im Jahr 2005 zunächst ein Grad der Behinderung von 50 und im Jahr 2009 von 100 festgestellt. Die Tochter absolvierte eine Berufsausbildung und befand sich bis 2010 in einem Beschäftigungsverhältnis. Ab Oktober 2011 erhielt sie eine Rente wegen voller Erwerbsminderung.

Der Kläger beantragte 2014, ihm für seine Tochter ab Januar 2010 Kindergeld zu gewähren. Dies lehnte die Familienkasse unter Hinweis darauf ab, dass die Behinderung nicht vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten sei.

Das FG gab der hiergegen gerichteten Klage für die Monate statt, in denen die der Tochter zur Verfügung stehenden Mittel nicht zur Deckung ihres notwendigen Lebensbedarfes ausreichten. Auf die Revision der Familienkasse hob der BFH das Urteil auf und verwies die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurück.

Die Gründe:
Der Senat kann nach den bisherigen Feststellungen des FG nicht abschließend darüber entscheiden, ob die Behinderung der T bereits vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten ist.

Da für die Tochter aufgrund einer Übergangsregelung noch nicht die ab 2000 auf das 25. Lebensjahr abgesenkte Altersgrenze gilt, setzt der Kindergeldanspruch des Klägers voraus, dass die Behinderung vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten ist. Der Behinderungsbegriff erfordert dabei eine für das Lebensalter untypische gesundheitliche Situation, die mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate andauert und die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben beeinträchtigt.

Nicht ausreichend ist es dagegen, wenn vor Erreichen der Altersgrenze eine Behinderung zwar droht, aber noch nicht eingetreten ist. Die bisherigen Feststellungen des FG sind daher insoweit nicht ausreichend. Das FG ist zwar auf der Grundlage des festgestellten Grades der Behinderung für die streitigen Monate ab 2011 zu Recht vom Vorliegen einer Behinderung ausgegangen. Für die Frage, ob die Behinderung bereits vor Vollendung des 27. Lebensjahres - also bis August 1995 - eingetreten ist, ließ das FG aber zu Unrecht bereits den festgestellten angeborenen Gendefekt ausreichen. Das FG wird im zweiten Rechtsgang daher nähere Feststellungen dazu zu treffen haben, ob der Gendefekt bereits vor Erreichen der Altersgrenze zu Funktions- und Teilhabebeeinträchtigungen bei der Tochter des Klägers geführt hatte.


Verlag Dr. Otto Schmidt vom 09.07.2020 12:33
Quelle: BFH PM Nr. 27 vom 9.7.2020

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