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Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in Kindschaftssachen - Teil 1 (Vogel, FamRB 2022, 364)

Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz hat Auswirkungen sowohl auf das Verfahrensrecht als auch auf das materielle Recht sowie auf das Vollstreckungsrecht in Kindschaftssachen. Der Verfasser zeigt anhand der Auflistung einiger Beispiele aus dem materiellen, formellen und Vollstreckungsrecht die wichtigsten Fallkonstellationen auf, bei denen der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz unbedingt beachtet werden muss. Im ersten Teil des Beitrags geht es um sechs Fallkonstellationen des materiellen Rechts.

I. Einleitung
II. Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im materiellen Recht

1. Keine sofortige Inobhutnahme des in Strafhaft geborenen Säuglings durch das Jugendamt
2. Verhältnis von § 1674 BGB zu §§ 1666, 1666a BGB
3. Grundsätzliche Entbehrlichkeit des Sorgerechtsentzugs bei Mitwirkungsbereitschaft des erziehungsberechtigten Elternteils
4. Erteilung einer Sorgerechtsvollmacht durch einen (mit-)sorgeberechtigten Elternteil
5. Teilweise an Stelle vollständiger Entziehung des Sorgerechts
6. Verhältnis von § 1628 BGB zu § 1671 Abs. 1 Satz 1 BGB


I. Einleitung
Bei der Durchsicht einiger familienrechtlicher Periodika ist festzustellen, dass sich das BVerfG, der BGH und die Tatsachengerichte in ihren Beschlüssen auch in jüngster Zeit u.a. oftmals mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit befasst haben. In dem Beschluss vom 14.9.2021 hat das BVerfG zum teilweisen Entzug der elterlichen Sorge einer Mutter wegen einer schulischen Überforderung resultierenden Kindeswohlgefährdung ihrer 16-jährigen Tochter, bei der ein Förderbedarf im Förderungsschwerpunkt Lernen besteht, ausdrücklich darauf hingewiesen, dass „jede zum Zwecke der Abwendung einer Kindeswohlgefährdung getroffene staatliche Maßnahme den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachten muss“. Diese Forderung ergibt sich bereits aus dem Wortlaut des § 1666 BGB, wonach das Familiengericht die Maßnahmen zu treffen hat, die zur Abwendung der Gefahr erforderlich sind. Unabhängig hiervon postuliert § 1666a Abs. 1 Satz 1 BGB auch, dass Maßnahmen, mit denen eine räumliche Trennung des Kindes von der elterlichen Familie verbunden sind, nur zulässig ist, wenn der Gefahr nicht auf andere Weise, auch nicht durch öffentliche Hilfen, begegnet werden kann. Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass es sich bei der räumlichen Trennung der Kinder von ihren Eltern gegen deren Willen um den denkbar stärksten Eingriff in das Elternrecht handelt, der nur unter strikter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erfolgen oder aufrechterhalten werden darf. Die negativen Folgen einer räumlichen Trennung des Kindes von seinen Eltern und einer Fremdunterbringung müssen durch die hinreichend gewisse Aussicht auf Beseitigung der festgestellten Gefahr aufgewogen werden, sodass sich die Situation des Kindes in der Gesamtbetrachtung letztlich verbessern muss. Dieselbe Kammer hat ihrer Entscheidung vom 24.11.2020 den Leitsatz vorangestellt, dass „ein Sorgerechtsentzug grundsätzlich entbehrlich ist, wenn der erziehungsberechtigte Elternteil die zur Abwendung einer dem Kind drohenden Gefahr gebotenen Mitwirkungshandlungen vornimmt oder vorzunehmen bereit ist“. In dieser Entscheidung ging es um die (letztlich verneinte) Frage, ob das OLG im Hinblick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz für besonders einschneidende Eingriffe in das Elternrecht berechtigt war, dem Beschwerdeführer die kinderpsychiatrische Begutachtung seiner Kinder aufzugeben. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit erfordert vor jedem staatlichen Eingriff deshalb stets die vorrangige Prüfung, ob er effektiv geeignet, erforderlich und zumutbar ist, d.h., es muss eine Klärung herbeigeführt werden, ob das „staatliche Handeln geeignet ist, den gewünschten Erfolg – hier Schutz des Kindes – zu erreichen („Geeignetheit“), ob kein anderes ebenso wirksames Mittel zur Verfügung steht, welches den genannten Zweck in gleicher Weise fördert („Erforderlichkeit“) und ob das staatliche Handeln in angemessenem Verhältnis zu dem Gewicht und der Bedeutung der betroffenen Grundrechte steht („Zumutbarkeit“)“. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlangt vor jedem Sorgerechtsentzug wegen Kindeswohlgefährdung eine sorgfältige Prüfung, ob der Kindeswohlgefährdung nicht auch auf andere Weise, insbesondere durch helfende, auf Herstellung oder Wiederherstellung eines verantwortungsgerechten Verhaltens gerichtete Maßnahmen, begegnet werden kann. Das Erfordernis der Hilfe vor dem Eingriff findet sich auch in der Vorschrift des § 1631b Abs. 1 Satz 2 BGB. Darüber hinaus hat das BVerfG in dem Beschluss vom 21.9.2020 beanstandet, dass die Ausführungen des KG zur Kindeswohlgefährdung in Bezug auf Feststellung und Würdigung des Sachverhalts nicht konkret genug, sondern nur allgemein gewesen sind. Insbesondere hat das KG nicht die negativen Folgen einer Fremdunterbringung für die Kinder in Betracht gezogen, die aber unerlässlich sind. Beanstandet hat das BVerfG ferner, es sei darüber hinaus auch nicht ersichtlich, ob die konkret getroffenen Maßnahmen zur Erreichung des verfolgten Zwecks erforderlich seien. Ebenfalls sei der Entscheidung des KG nicht mit hinreichender Sicherheit zu entnehmen, ob keine milderen Mittel zur Verfügung standen, die ebenso geeignet gewesen wären, die angenommene Gefährdung von den Kindern abzuwenden. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beeinflusst auch die Gestaltung des gerichtlichen Verfahrens.

Diese Beanstandungen zeigen bereits, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Auswirkungen auf das Verfahrensrecht und auch auf das materielle Recht hat. Aufgabe der folgenden Ausführungen wird die Auflistung einiger Beispiele im materiellen und formellen sowie im Vollstreckungsrecht sein, bei denen der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz unbedingt beachtet werden muss.

II. Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im materiellen Recht

1. Keine sofortige Inobhutnahme des in Strafhaft geborenen Säuglings durch das Jugendamt

Das BVerfG hat stets betont, dass „die Trennung eines Kindes von seinen Eltern den stärksten Eingriff in das Elterngrundrecht darstellt. Sie ist nach Art. 6 Abs. 3 GG allein zu dem Zweck zulässig, das Kind vor nachhaltigen Gefährdungen zu schützen und darf nur unter strikter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erfolgen. Damit verbunden sind hohe Anforderungen an die Sachverhaltsermittlung, die grundsätzlich auch im tatgerichtlichen Eilverfahren gelten.“ Mit diesen Maßstäben hat sich das OLG Stuttgart intensiv auseinandergesetzt. Es wies die Beschwerde des Jugendamts gegen die Entscheidung des Familiengerichts zurück, weil das Familiengericht zu Recht im einstweiligen Anordnungsverfahren wegen fehlender konkreter Gefährdung des Kindeswohls keine sorgerechtlichen Maßnahmen nach den §§ 1666, 1666a BGB (sic: Entziehung des Aufenthaltsbestimmungsrechts der strafrechtlich zu einer Jugendstrafe von eineinhalb Jahren verurteilten Mutter) getroffen hat. Denn auch im Fall einer Inhaftierung der Mutter sind zuvor alle geeigneten ambulanten oder auch stationären Hilfen zu gewähren, um eine räumliche Trennung von Mutter und Kind zu verhindern. Allein die Straffälligkeit der Mutter indiziert nicht zwangsläufig ihre Erziehungsunfähigkeit. Vielmehr ist der allein personenberechtigten inhaftierten Mutter vor dem Entzug des Aufenthaltsbestimmungsrechts zunächst die Möglichkeit zu geben, nach § 80 StVollzG das noch nicht schulpflichtige Kind...


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Verlag Dr. Otto Schmidt vom 13.09.2022 12:24
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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