Otto Schmidt Verlag

Kurzbesprechung

Kindergeldanspruch für ein volljähriges behindertes Kind

1. Das für ein behindertes Kind gezahlte Pflegegeld ist bei den dem Kind zur Verfügung stehenden finanziellen Mitteln als Bezug zu berücksichtigen.
2. Bei der Prüfung, ob dem behinderten Kind gegenüber seinem Ehegatten ein Unterhaltsanspruch zusteht, mindern die vom Ehegatten auf sein Einkommen geleisteten Steuern (Lohnsteuer, Solidaritätszuschlag, Kirchensteuer) und Sozialversicherungsbeiträge das diesem zur Unterhaltsleistung zur Verfügung stehende Einkommen.
3. Der vom Ehegatten des behinderten Kindes an ein (gemeinsames oder nicht gemeinsames) minderjähriges Kind geleistete Unterhalt mindert die diesem für den Ehegattenunterhalt zur Verfügung stehenden Mittel.

BFH v. 20. 10. 2022 - III R 13/21

EStG § 32 Abs 4 S 1 Nr. 3, § 63 Abs 1 S 2
BGB § 1360, § 1360a, §§ 1569ff, § 1609, § 1612b Abs 1 S 1 Nr. 1


Gemäß § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Sätze 1 und 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG besteht für ein Kind, das das 18. Lebensjahr vollendet hat, ein Anspruch auf Kindergeld, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, und die Behinderung vor Vollendung des 25. Lebensjahres eingetreten ist. Das Tatbestandsmerkmal "außerstande, sich selbst zu unterhalten" wird im Gesetz nicht näher umschrieben.

Ein behindertes Kind ist dann außerstande, sich selbst zu unterhalten, wenn es seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten kann. Die Fähigkeit zum Selbstunterhalt ist dabei anhand eines Vergleichs zweier Bezugsgrößen zu prüfen, nämlich des aus dem Grundbedarf und dem behinderungsbedingten Mehrbedarf bestehenden gesamten existenziellen Lebensbedarfs des Kindes einerseits und seiner finanziellen Mittel andererseits. Diese Prüfung hat für jeden Monat gesondert zu erfolgen.

Der behinderungsbedingte Mehrbedarf umfasst Aufwendungen, die gesunde Kinder nicht haben. Dazu gehören alle mit einer Behinderung zusammenhängenden außergewöhnlichen Belastungen, insbesondere solche für Hilfen bei den gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens. Diese können einzeln nachgewiesen oder mit dem maßgeblichen Pauschbetrag (§ 33b Abs. 1 bis 3 EStG) angesetzt werden. Wird Pflegegeld gezahlt, welches den Behinderten-Pauschbetrag übersteigt, so ist zu vermuten, dass mindestens ein Mehrbedarf in Höhe des gezahlten Pflegegeldes besteht.

Bezüge sind alle Zuflüsse in Geld oder Naturalleistungen, die nicht im Rahmen der einkommensteuerrechtlichen Einkünfteermittlung erfasst werden. Sozialleistungen, mit deren Hilfe das Kind seinen existenziellen Grundbedarf oder behinderungsbedingten Mehrbedarf decken kann, sind zu berücksichtigen, soweit das Kind nicht vom Sozialleistungsträger zu einem Kostenbeitrag herangezogen wird. Dies gilt auch für nachrangige Sozialleistungen, soweit der Sozialleistungsträger nicht bei den Eltern Regress nimmt.

Pflegegeld ist als ein für den Unterhalt geeigneter Bezug anzusetzen. Die Berücksichtigung derartiger Sozialleistungen als Bezüge ist auch sachgerecht. Denn bei volljährigen behinderten Kindern wird hinsichtlich der Frage der Unfähigkeit zum Selbstunterhalt immer an die tatsächlich verwirklichten Verhältnisse und somit an die tatsächlich gezahlten Sozialleistungen angeknüpft; die materielle Lage eines Kindes, dessen behinderungsbedingter Mehrbedarf durch eine Leistung wie das Pflegegeld abgedeckt wird, ist günstiger als die eines Kindes mit einem Mehrbedarf in gleicher Höhe, das diese Leistung nicht erhält.

Im Streitfall war das Kind infolge des Pflegegeldes in geringerem Maße auf Mittel der Steuerpflichtigen, die Kindergeld für das behinderte Kind geltend machte, angewiesen. Zu den dem behinderten Kind zur Verfügung stehenden eigenen finanziellen Mitteln gehören auch Leistungen Dritter, soweit diese zur Bestreitung des Lebensunterhalts bestimmt und geeignet sind. Dabei kommt es nicht darauf an, ob sie aufgrund einer tatsächlich bestehenden zivilrechtlichen Verpflichtung (z.B. § 1615 BGB), einer vermeintlichen Verpflichtung oder freiwillig erbracht werden.

Unter den Begriff der Bezüge sind daher auch Unterhaltsleistungen des verheirateten oder geschiedenen Ehegatten (§ 1360, § 1360a, § 1361, §§ 1569 ff. BGB) zu fassen. Im Streitfall war das behinderte Kind verheiratet, die Eheleute hatten ein gemeinsames Kind (Enkelkind der Anspruchsberechtigten). Diese können bei Ehepartnern, die in einem gemeinsamen Haushalt leben, regelmäßig nur geschätzt werden. Dabei ist von folgenden Grundsätzen auszugehen:

  • Bei einer kinderlosen Ehe fließt nach der Lebenserfahrung dem nicht verdienenden Ehepartner etwa die Hälfte des gemeinsamen verfügbaren Nettoeinkommens in Form von Geld- und Sachleistungen als Unterhalt zu, sofern dem unterhaltsverpflichteten Ehepartner ein verfügbares Einkommen in Höhe des steuerlichen Existenzminimums verbleibt.
  • Verfügt das Kind auch über eigene Mittel, so ist zu unterstellen, dass sich die Eheleute ihr gemeinsames verfügbares Einkommen teilen. Haben die Ehegatten eigene Kinder, so werden die Einkünfte desjenigen Ehegatten, für den Kindergeld begehrt wird, durch dessen Unterhaltsleistungen an sein eigenes Kind grundsätzlich nicht gemindert.


Soweit eine Halbteilung der verfügbaren Mittel durch die in intakter Ehe zusammenlebenden Partner anzunehmen ist, wird zugunsten des erwerbstätigen Ehegatten kein Erwerbstätigenbonus abgezogen.

Reichen die so verteilten Einkünfte und Bezüge des Ehepartners ‑ allein oder zusammen mit Einkünften und Bezügen des behinderten Kindes ‑ für den vollständigen Unterhalt des behinderten Kindes aus und liegt kein weiterer Berücksichtigungstatbestand gemäß § 32 Abs. 4 Satz 1 Nrn. 1 und 2 EStG vor, so entfällt der Kindergeldanspruch.

Im Streitfall war das FG zwar zutreffend davon ausgegangen, dass die Einkünfte und Bezüge des behinderten Kindes, für das Kindergeld begehrt wird, nicht wegen Unterhaltsverpflichtungen des Kindes gegenüber seinem Kind, d.h. dem Enkel der Eltern des behinderten Kindes, zu kürzen sind. Denn eine unmittelbare Berücksichtigung der vom Enkelkind ausgelösten Unterhaltslasten im Rahmen der Prüfung der behinderungsbedingten Unfähigkeit zum Selbstunterhalt ist ausgeschlossen, weil sich die behinderungsbedingte Unfähigkeit zum Selbstunterhalt danach bestimmt, ob Einkünfte und Bezüge des behinderten Kindes dessen existenziellen Lebensbedarf decken.

Der Unterhaltsbedarf des Kindeskindes vermindert jedoch weder die Einkünfte und Bezüge des behinderten Kindes noch erhöht er dessen existenziellen Lebensbedarf. Der vom Ehemann an ein Kind aus einer weiteren Beziehung gezahlte Unterhalt mindert jedoch den an das behinderte Kind zu leistenden Unterhalt. Dies gilt unabhängig davon, ob insofern auf die tatsächlich zur Verfügung stehenden Mittel oder auf die Zivilrechtslage abgestellt wird. Denn der Anspruch des Ehegatten auf Ehegattenunterhalt ist gegenüber dem Unterhaltsanspruch minderjähriger Kinder rechtlich nachrangig (§ 1609 BGB), und tatsächlich stehen Mittel, die vom Ehegatten an ein nicht im gemeinsamen Haushalt lebendes Kind gezahlt werden, auch nicht für den Unterhalt des Ehegatten und weiterer Haushaltsmitglieder zur Verfügung.

Eine unmittelbare Berücksichtigung der Belastung des behinderten Kindes mit Unterhaltsleistungen für das gemeinsame Kind E hatte das FG zu Recht abgelehnt. Eine mittelbare Berücksichtigung der Unterhaltslasten für das gemeinsame Kind infolge geminderten Ehegattenunterhalts ist jedoch nicht ausgeschlossen. Denn beide Elternteile sind ihrem mit ihnen im gemeinsamen Haushalt lebenden unverheirateten minderjährigen Kind gleichermaßen zum Unterhalt verpflichtet; diese Verpflichtung geht der zum Unterhalt des Ehepartners vor (§ 1609 BGB). Für den Streitfall ergab sich daraus, dass das behinderte Kind von ihrem Ehemann keinen Unterhalt beanspruchen kann, soweit dieser mit seinen Mitteln das gemeinsame Kind unterhalten muss.

Tatsächlich stehen die vom Ehemann notwendig für den Kindesunterhalt aufgewendeten Beträge für seinen und den Unterhalt seiner Ehefrau auch nicht zur Verfügung. Der BFH neigt dazu, in Anlehnung an die Zivilrechtslage (§ 1612b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BGB) und weil das Kindergeld auch der Deckung des Betreuungs-, Erziehungs- und Ausbildungsbedarfs dient, von dem für den Barunterhalt erforderlichen Betrag lediglich das halbe Kindergeld abzuziehen. Im Streitfall war dies jedoch im Ergebnis unerheblich, so dass der BFH offen lassen konnte, ob der für den Barunterhalt erforderliche Betrag nicht sogar um das volle Kindergeld zu kürzen ist, weil es für Zwecke der Ermittlung des Ehegattenunterhalts nur auf die Verteilung der zur Verfügung stehenden Geldmittel innerhalb der Familie ankommt.



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 09.03.2023 13:24
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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