LSG Baden-Württemberg v. 22.2.2022 - L 10 U 3232/21
Vom versicherten Arbeitsweg zum unversicherten Abweg
Der Weg von der Schulwegbegleitung eines Kindes zurück zum Arbeitsweg ist nicht gesetzlich unfallversichert, wenn es sich um einen nicht aufgrund der Arbeitstätigkeit erforderlichen Umweg handelt.
Der Sachverhalt:
Die gesetzliche Unfallversicherung bietet Versicherungsschutz bei Berufskrankheiten und Arbeitsunfällen. Zu den Arbeitsunfällen gehören auch Unfälle auf dem Weg von und zur Arbeit, die sog. Wegeunfälle. Auch ein Abweichen von dem direkten Arbeitsweg kann unter bestimmten Voraussetzungen gesetzlich unfallversichert sein. Dabei muss aber ein ausreichender Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit bestehen bleiben. Eine solche Ausnahme kommt gesetzlich etwa für einen vom Arbeitsweg abweichenden Weg in Betracht, um ein Kind wegen der beruflichen Tätigkeit fremder Obhut anzuvertrauen (§ 8 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. a SGB VII).
Die Klägerin hatte ihre Tochter im Grundschulalter in Stuttgart zu einem Sammelpunkt auf dem Schulweg begleitet, an dem sich eine Gruppe von Mitschülern für den restlichen Weg traf. Dieser Sammelpunkt lag, von der Wohnung der Klägerin aus gesehen, in entgegengesetzter Richtung zu ihrer Arbeitsstätte. Auf dem Weg von dem Sammelpunkt zu ihrer Arbeit, aber noch vor Erreichen des Wegstücks von ihrer Wohnung zur Arbeit, wurde die Klägerin - als sie trotz einer roten Fußgängerampel eine Straße überquerte - von einem PKW erfasst. Sie erlitt u.a. eine Gehirnerschütterung und verschiedene Knochenbrüche. Nachdem die zuständige gesetzliche Unfallversicherung die Anerkennung eines Arbeitsunfalls ablehnte, bekam die Klägerin vor dem SG zunächst recht. Sie hatte insbesondere geltend gemacht, dass die Begleitung ihrer Tochter aus Sicherheitsgründen erforderlich gewesen sei.
Auf die Berufung des Unfallversicherungsträgers hat das LSG die erstinstanzliche Entscheidung aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Die Gründe:
Ein Arbeitsunfall setzt u.a. voraus, dass die Verrichtung zur Zeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist. Die Klägerin hat sich zwar im Unfallzeitpunkt objektiv auf dem Weg zu ihrer Arbeitsstätte befunden. Dies ist jedoch nicht hinreichend, denn das Überqueren der Straße am Unfallort zum Unfallzeitpunkt ist nicht auf dem direkten Weg zum Ort der versicherten Tätigkeit erfolgt, so dass der erforderliche sachliche Zusammenhang mit der Betriebstätigkeit fehlt.
Bewegt sich der Versicherte - wie vorliegend die Klägerin - nicht auf einem direkten Weg in Richtung seines Ziels, sondern in entgegengesetzter Richtung von diesem fort, handelt es sich eben nicht um einen bloßen Umweg, sondern um einen Abweg. Wird der direkte Weg mehr als geringfügig unterbrochen und ein solcher Abweg allein aus eigenwirtschaftlichen, also nicht betrieblichen Gründen - ebenfalls wie vorliegend - zurückgelegt, besteht kein Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung. Die Klägerin hat auch bis zum Eintritt des Unfallereignisses die unmittelbare Wegstrecke zwischen ihrer Wohnung und der Arbeitsstätte noch nicht wieder erreicht. Der Wegeunfallversicherungsschutz ist damit zum Unfallzeitpunkt noch nicht erneut begründet worden.
Es liegt auch kein ausnahmsweise versicherter Abweg vor. Die Klägerin hat ihre Tochter nicht - wie für den gesetzlichen Unfallversicherungsschutz insoweit erforderlich - zum Sammelpunkt begleitet, um ihrer Beschäftigung nachzugehen, sondern allein und ausschließlich aus allgemeinen Sicherheitserwägungen zum Schutz der Tochter. Damit fehlt vorliegend jeglicher sachlich-inhaltlich kausaler Zusammenhang zwischen der Beschäftigung der Klägerin und dem Begleiten der Tochter. Denn erfasst werden keine Fälle, in denen das Kind unabhängig davon in fremde Obhut verbracht wird, ob der Versicherte seine Beschäftigung alsbald aufnehmen will. Schließlich stellt auch die Begleitung der Tochter zu einem Sammelpunkt der Kinder-„Laufgruppe“, von wo aus die Grundschulkinder gemeinsam den Schulweg beschritten, schon kein „Anvertrauen in fremde Obhut“ im Sinne des Gesetzes dar.
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